Allein die Götter können alles sehen

Interview mit der Fotografin Barbara Probst

Thomas Honickel: Sie waren in München und Düsseldorf an der Akademie. Was haben Sie da gelernt?

Barbara Probst: Ich habe in München Bildhauerei studiert und waehrenddessen begonnen, mich für Fotografie zu interessieren. Ich wollte aber weg von München und habe dann ein Jahr in Düsseldorf verbracht, wo ich in der Fotoklasse von Bernd Becher war. In München hatte ich viel mehr Freiheiten, denn in Düsseldorf waren die Klassen doch sehr durch die Professoren geprägt. Ich habe dort sehr viel über Technik gelernt, zum Beispiel mit Großbildkameras umzugehen, die der Klasse zur Verfügung standen. Im Grunde habe ich das gelernt, was ich auch lernen wollte. Danach bin ich nach München zurückgegangen und habe mein letztes Jahr in der Bildhauereiklasse gemacht.

TH: Wie sahen Ihre ersten fotografischen Arbeiten aus?

BP: Bei mir hat sich die Fotografie langsam aus der Bildhauerei heraus entwickelt, eben aus dem räumlichen Denken. Am Anfang waren die Fotografien in die Skulpturen und Installationen integriert. Erst Ende der 90er Jahre habe ich mich ganz auf die Fotografie konzentriert.

TH: Haben Sie damals noch geglaubt, dass die Fotografie so etwas wie Wahrheit transportieren kann?

BP:Genau dieser Punkt hat mich bei der Fotografie besonders interessiert, dass sie diese Spur der Wahrheit oder zumindest der Wirklichkeit hat. Vielleicht, weil ich von der Bildhauerei gekommen bin, wo ich sehr viel mit Ton gearbeitet habe, womit man alles formen kann. Ton ist zwar sehr real, hat aber eigentlich keine Form und ist in diesem Sinne nicht konkret. Dieser Umgang mit dem Nicht-Konkreten, Formlosen hat mich wohl für die Fotografie sensibilisiert. Es hat mich sehr beeindruckt, wie ich zum ersten Mal in der Dunkelkammer sah, wie auf dem Papier langsam die Spur der Wirklichkeit herauskam. Das hat mich wirklich total an der Fotografie gefesselt. Dann habe ich mich aber auch sehr mit der Theorie der Fotografie befasst, was die Fotografie kann, was sie mit der Wirklichkeit macht, das waren damals offene Fragen. Und diese Überlegungen über das Medium Fotografie haben im Jahr 2000 zu diesem Experiment geführt, mit zwölf Kameras das gleiche im gleichen Augenblick zu fotografieren, um zu sehen, was diese zwölf Blickwinkel überhaupt mit der Wirklichkeit machen. Im Grunde war es die Frage danach, wie verhält sich die Wirklichkeit in der Fotografie oder was macht die Fotografie mit der Wirklichkeit.

TH: Können Sie kurz auf die technische Seite dieses Experimentes eingehen?

BP: Ich verwende analoge und digitale Kameras, die mit einem Radiowellenempfänger gekoppelt sind und ich habe einen Radiowellensender, mit dem ich alle Kameras gleichzeitig auslösen kann. Wir nehmen eine Szene immer mindestens 30-40 mal auf, d.h. es gibt am Ende ebenso viele Reihen, von denen ich dann eine aussuche.

TH: Ihre Settings haben viel mit dem Filmhandwerk oder Theatralischem zu tun. Hätte aus Ihnen auch eine Filmemacherin oder eine Choreografin werden können?

BP: Vielleicht. Aber obwohl ich mich gerade mit Film und Filmtheorie sehr auseinandersetze, auch viele Filme sehe, weil ich das Filmische noch mehr in meine Arbeit hineinbringen will, wollte ich nicht einen Film machen. Film ist narrativ und hat eine Chronologie. In meiner Arbeit interessiert mich etwas ganz anderes, auch wenn sie manchmal filmisch wirkt. Es geht eigentlich um den Vergleich von verschiedenen Bildern eines Augenblicks. Es geht um das Verhältnis der Bilder zueinander und was die beim Betrachter auslösen, was der Betrachter damit macht. Im Grunde wird meine Arbeit ja erst durch den Betrachter komplett, sie kann nicht ohne den Betrachter sein. Ein Mondrian-Bild ist in sich sozusagen vollstaendig, es braucht den Betrachter nicht, aber meine Arbeit braucht den Betrachter, um die Lücken zu schließen, die in der Arbeit eigentlich hergestellt werden.

TH: Der Film braucht auch den Betrachter, Regisseure wie Hitchcock, die den Point of View besonders raffiniert eingesetzt haben, stimulieren ja damit auch den Betrachter…

BP: Ja, aber der traditionelle Film vor Godard war schon komplett in der Erzählstruktur. Es wurde immer sichergestellt, dass der Betrachter alles so versteht wie es verstanden werden soll. Als Godard 1960 die jump cuts eingeführt hat, wurde der Betrachter notwendig, um im Kopf – ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt – zu ergaenzen, was der jump cut uebersprungen hat.

TH: Aber hat nicht Godard gesagt, dass Film 24 mal in der Sekunde die Wahrheit wäre? Da würden Sie doch vehement widersprechen…

BP: Ich glaube, Godard hat gesagt, es ist die Wahrheit und die Lüge gleichzeitig. Wenn ich sagen wuerde, dass es keine Wahrheit gibt, dann waere das doch eine Binsenweisheit.

TH: Aber denkt nicht der Parkwächter im Parkhaus, der auf seinem Monitor alle Parkdecks und Aufzugseingänge vor sich hat, er habe den vollen Überblick?

BP: Ja. Aber eigentlich wissen wir doch alle, dass Fotografie eine Manipulation der Wirklichkeit ist, egal ob es um die erste Fotografie geht, die jemals gemacht wurde, oder um eine heutige. Aber trotzdem wollen wir schon glauben, was wir in einer Fotografie sehen. Das gleiche gilt fuer unser Verhaeltnis zu Film und Video. Der Parkwächter glaubt also, was er sieht. Vielleicht hat das auch mit einem Überlebensdrang zu tun in dem Sinne: wenn wir das nicht glauben, was sollen wir dann eigentlich glauben? Wir wissen ja auch nie, was der andere sieht, aber trotzdem, indem wir glauben dasselbe zu sehen wie der andere – indem wir beispielsweise „gelb“ sehen und das auch benennen können – können wir kommunizieren und überleben. Wir brauchen einen bestimmten Glauben an das, was wir sehen, damit wir überleben können.

TH: Vorhin war schon einmal die Rede von dem großen narrativen Potential Ihrer Fotoserien. Versuchen Sie das eher zu eliminieren oder sogar zu verstärken?

BP: Die Szenen, die ich inszeniere und fotografiere, sind immer sehr ambivalent und offen dem gegenüber, was sie aussagen könnten. Sie sind immer sehr einfach, ich verwende eigentlich nie irgendwelche Requisiten. Es gibt Gesten, die alles Mögliche bedeuten könnten, aber nichts Genaues. Ich mache das so, weil ich dadurch aus den verschiedenen Blickwinkeln mehr Möglichkeiten habe, diese ambivalente Geste des Modells auf verschiedene Weisen darzustellen. Wenn die Geste des Modells eindeutig wäre, dann waere dies schwieriger. Trotzdem ist jedes Bild in sich, wie natürlich jede Fotografie, narrativ. Aber wenn die Bilder innerhalb einer Arbeit zusammen kommen, widersprechen sich die verschiedenen Erzaehlungen der Bilder. Die Bilder schalten sich eigentlich gegenseitig aus. Der gemeinsame Moment laesst jegliche Narration implodieren.

TH: Wenn Sie bis zu zwölf Fotoapparate benutzen, planen Sie da minutiös jeden Ausschnitt oder spielt da nicht vielleicht zuweilen auch der Zufall eine Rolle?

BP: Ja, schon sehr. Ich bemühe mich, alles so gut wie möglich zu kontrollieren und so gut wie möglich vorzubereiten, aber sobald fotografiert wird, heiße ich den Zufall sehr willkommen. Oft haben dann sogenannte Fehler oder Zufälle die besten Reihen hervorgebracht.

Ich vermute, der Film „Blow up“ von Michelangelo Antonioni ist sehr wichtig für Sie. In mehreren Ihrer Fotoserien kann man Reminiszenzen daran entdecken, vom Fotografen David Hemmings und dem Schauplatz seiner ominösen Fotografie im Park bis hin zu Antonionis Lieblingsdarstellerin Monica Vitti…

BP: Ich bin sowieso ein Fan von Antonioni, ich weiß aber nicht, ob „Blow up“ wirklich ein Schlüsselfilm für meine Arbeit ist, aber ich habe daraus eigentlich immer wieder Bilder benutzt, weil in diesem Film letztlich gesagt wird: je näher man hinschaut, desto mehr löst es sich auf, desto weniger sieht man. Der Fotograf im Film denkt, dass er diesen Mord dokumentiert hat, aber eigentlich ist es nur ein Fragezeichen, das ist ja gar nicht sicher. Letztendlich steht total in Frage, was Fotografie eigentlich mit der Wirklichkeit zu tun hat.
In dem Film stecken schon viele Dinge drin, die für mich interessant waren. Es geht ja auch um das Fotografieren selbst, auch um die Power dieses schlechtgelaunten Fotografen, die Power der Fotografie, die Kamera als Waffe.

TH: Gibt es andere für Sie wichtige Filme?

BP: Es gibt viele Filme. Zum Beispiel von Stanley Kubrick einen ganz frühen, „The Killing“, da hat er aus der Sicht fuenf Beteiligter den Raub einer Kasse an einer Pferderennbahn gefilmt. Und es gibt von Kurosawa den Film „Rashomon“, wo auch eine Geschichte aus vier verschiedenen Blickpunkten erzählt wird. Aber Filme haben eigentlich nie direkt eine Arbeit ausgelöst, ich nehme eher Details daraus oder orientiere mich daran, wie Dinge gefilmt werden. Ich interessiere mich sehr fuer Kameraeinstellungen und deren Wirkung im Film. Das kann man im im Kino wunderbar studieren. Meine Arbeit scheint auch deswegen filmisch, weil im Film eine Szene eben auch immer von verschiedenen Standpunkten aus gefilmt wird, dann aber chronologisch ablaufend über diese Standpunkte abgewickelt wird.

TH: Das simultane Aufnehmen kennen wir doch schon lange, von Fußballspielen oder Fernsehshows, Künstler wie Philippe Parreno und Douglas Gordon haben sich damit auseinandergesetzt, die den Fußballer Zidane einmal ein ganzes Spiel lang von sechzehn Kameras verfolgen ließen. Gibt es zeitgenössische Künstler, denen Sie sich verwandt fühlen?

BP: Doch, es gibt schon Künstler, aber weniger dadurch, dass ihre Arbeit ähnlich wie die meine aussieht. Zum Beispiel James Welling, der mit Fotografie auf verschiedenste Art und Weise arbeitet, durch alle Genres hindurch, mit Schwarzweiß und mit Farbe. Es gibt bei ihm Fotografien, in denen der Referent eigentlich verloren ist, wo man nicht weiß, was das ist, was er fotografiert hat. Wo das verloren ist, worauf das Foto eigentlich verweist, nämlich die Wirklichkeit. Diese Fotos wirken abstrakt, aber sie stellen etwas dar, das sich nicht herausfinden lässt. Er hat beispielsweise ein Gelée, das wie Götterspeise aussieht, so fotografiert. Weiter fasziniert mich bei Fred Sandback, wie er mit Raum umgegangen ist, wenn er seine Schnüre aufspannte. Bei ihm ist wichtig, dass der Raum, um den es geht, in unserem Kopf entsteht. Er gibt uns ja nur minimale Markierungen vor, die dann in unserem Kopf eine Vorstellung von Raum hervorbringen und diese gleichzeitig irritieren. Und letztlich war und ist Godards Interesse am Betrachter und an der Dekonstruktion von Film wichtig fuer meine Arbeit. Ebenso Brechts Verfremdungseffekt, bei dem der Betrachter auf sich selbst zurueckgeworfen wird.

TH: Bei der wievielten Ihrer „Exposures“ sind Sie mittlerweile angekommen und was stellt die neue Arbeit dar?

BP: Jetzt bin ich bei Nummer 109. Es ist wieder eines der Close Ups. Bei mir gibt es ja keine stete Entwicklung, ich habe verschiedene Interessensgebiete und wechsle bei diesen hin und her oder gehe vor und zurück. Bestimmte Erfahrungen aus neuen Arbeiten trage ich oft zurueck in eine „alte“ Idee, um zu sehen, was dabei herauskommt. Dieses Close Up habe ich früher schon einmal auf andere Weise gemacht: zwei Teenager sitzen zwei Kameras gegenüber und einer schaut in die eine Kamera und der andere in die andere. Das Ergebnis sind zwei Bilder, aus denen jeweils ein Teenager dem Blick des Betrachters begegnet. Die zwei Standpunkte der Kameras kommen in dem einen Standpunkt des Betrachters zusammen, der auf sich selbst zurückgeworfen wird, weil er plötzlich zwei Standpunkte in einem hat: der Betrachterstandpunkt wird in Frage gestellt.

TH: Glauben Sie, dass die Information einer Fotografie unendliche Möglichkeiten zur Dechiffrierung lässt?

BP: Ja, schon. So wie es unendliche Möglichkeiten gibt, einen Moment darzustellen, so gibt es unendliche Moeglichkeiten eine Fotografie zu lesen. Jede Fotografie birgt diese Unendlichkeit. Aber wir lesen das nicht mit beim Betrachten, weil wir glauben möchten, was wir sehen. Um das mitzulesen, muessten wir Zweifel zulassen.

Thomas Honickel
Photonews, Interview with Barbara Probst, April, pp.14-15
2014