Dialog über die Unteilbarkeit, Ein Gespräch mit Barbara Probst

Andreas van Dühren: Wenn Du ein Werk der Photographie siehst – womöglich nicht beschränkt auf das einzelne Bild: Was würdest Du hierbei als Realität unterscheiden von dem, was dann nur Gegenstand (im Sinne des Sujets) wäre, und was hältst Du schließlich für das Bild?

Barbara Probst: Realität, Sujet und Bild liegen ja in einer Photographie wie drei Folien aufeinander und scheinen auf den ersten Blick voneinander nicht unterscheidbar. Ich will also versuchen, diese drei Folien etwas auseinanderzuziehen, um sie einzeln bestimmen und verorten zu können. Das, was wir als Realität in einer Photographie vorzufinden meinen, ist doch eigentlich so etwas wie ein schwaches Nachglühen der Realität. Die Realität selbst ist tatsächlich vollkommen abgelöst von der Photographie. Denn eine Photographie zeigt nie die Realität, sie zeigt nur eine Sichtweise auf sie. Unendliche Sichtweisen sind möglich, und alle liefern ein anderes Ergebnis. Die Realität selbst dagegen ist vollkommen unabhängig von Sehweisen. Sie existiert als das, was sie ist. Das Bild aus unserem Realität-Sujet- Bild-System sehe ich der Realität gegenüberliegend und weit von ihr entfernt, auf der Seite der Wahrnehmung. Denn das Bild entsteht durch unseren Blick und alles, was mit ihm zu tun hat: Sehen, Erkennen, Beurteilen, Einordnen. Dazu gehören auch alle Assoziationen und Querverbindungen zu unseren Erinnerungen, Phantasien und Gefühlen, die das Bild für jeden Betrachter in eine andere Bedeutung ziehen können. Mit anderen Worten, das Bild benötigt uns, um eines zu sein. Das Bild ist das, an dem all die einzelnen Farb- und Helligkeitswerte einer Photographie in etwas mehr oder weniger Bekanntes übergehen. So wie das Bild durch die Subjektivität des Betrachters entsteht, so entsteht das Sujet durch die Subjektivität des Photographen. Standpunkt und Ausschnitt, Objektiv und Belichtungszeit und viele andere Entscheidungen im Moment des Auslösens sind bestimmend für das Sujet. Konsequenterweise muß das Sujet irgendwo zwischen Bild und Realität liegen, denn einerseits liefert es dem Betrachter einen Impuls, der das Bild mit all seinen Facetten entstehen läßt, andererseits ist es der Realität verpflichtet, die in ihm nachglüht.

AvD: Wir haben wohl keine Wahl – wir müssen uns die Realität als etwas Gegebenes vorstellen, somit unabhängig von unserer Wahrnehmung, von uns selbst (was beinahe an den Ursprung des Universums erinnert: irgendeinen Anfang müssen wir voraussetzen, irgendwo müssen wir ansetzen können). Es kann aber auch keinen Zweifel daran geben, daß wir die Realität nur durch uns selbst als gegeben annehmen; sogar die exakte Messung bedarf der Instrumente (die wir konstruiert haben) sowie unserer Anstrengung, etwas abzulesen und zu verstehen. Realität ist also das mehr oder weniger vorläufige Resultat einer Konvention (im Sinne der Übereinstimmung, des Einvernehmens): im Falle der Messung ist es eine theoretische Grundlage, die es erlaubt, das aktuelle Ergebnis zu interpretieren; im Falle der alltäglichen Beobachtung besteht durch eine genügende Anzahl von Zeugen und eine bestimmte Sprachregelung eben die Einigung darüber, daß der Gegenstand, auf den ich im Augenblick zeige oder den ich benenne, die Sonne ist, von der ich behaupte, daß sie scheint. Die Unterscheidung zwischen Realität und – sagen wir nun – Bild dürfte also eine fließende sein, und greifbar nur an einem willkürlich gewählten Punkt, an dem etwas fixiert wird: im Grunde das, was man “Reflexion” nennt. Den Unterschied macht eine Wahl, sei es eine spontane oder eine elaborierte. Meine Entscheidung, “Sonne” zu sagen, schließt andere Möglichkeiten aus – meine Formulierung, mit der ich des weiteren von der Sonne spreche (oder sie darstelle, oder aufzeichne) individualisiert den Gegenstand tendenziell. Offenbar liegt in dieser Wahl der Ursprung des Bildes: Es ist ein Ausschnitt.

Barbara Probst: Wenn wir dann schon beim Ursprung sind, würde ich sagen, daß der Ausschnitt wohl vor dem Bild da war. Anders gesagt: das Bild ist eine logische Konsequenz aus der ausschnitthaften Wahrnehmung des Menschen. Diese ist in jedem Moment naturgemäß auf nur einen mehr oder weniger kleinen Ausschnitt der Welt beschränkt. Ein Bild spiegelt genau diese Grundvorraussetzung unseres Seins wider. Es ist ein Ausschnitt. Das ist vielleicht auch der Grund, warum wir Menschen immer schon Bilder gemacht haben – vom Stier in der Höhle von Lascaux bis zu Spiderman im Kino. Und warum wir uns mit diesen Bildern fast schon wahnhaft umgeben wollen.

AvD: Das Naturgemäße und das Wahnhafte … Wer einen Raum betritt (der für sich bereits einen gegebenen, überschaubaren Ausschnitt der Welt darstellt), der wählt schon in erster Instanz unwillkürlich aus den zunächst unzähligen, gleichwertigen Möglichkeiten einige wenige Felder, denen er überhaupt etwas wie Signifikanz überträgt. Diese Beschränkung dessen, was andernfalls übermächtig wäre, erlaubt die nächsten Akte, Orientierung, immerhin eine bedingte Souveränität. Eine persönliche Disposition, die jene Reduktion nicht anspringen läßt, setzt den Betreffenden in einer Weise den Eindrücken aus, die ihn überfordern muß; das Bedürfnis, Zusammenhänge zu erkennen, ist vor diesem Übermaß in der Gefahr einer paranoiden Tendenz. Dies mag im besonderen Fall in eine kreative Aneignung umschlagen; in den meisten Fällen nimmt die Gefahr überhand und besetzt den Betreffenden krankhaft. Wenn Du also von einer Tendenz sprichst, sich mit (immer mehr) Bildern zu umgeben – ist diese (einmal angenommen) gesteigerte Bildproduktion des Einzelnen eine Antwort auf die in der Umwelt übermächtig gewordene Suggestion der Eindrücke (etwa durch technologische Entwicklungen bedingt, die jene gesunde Reduktion zunehmend behindern)? Dann müßte man wohl weiterhin fragen, ob diese Tendenz eher eine allgemeine Entfesselung (bis ins Krankhafte, Ohnmächtige) bedeutet, oder ob sie auf ein Potential hinweist, das immer mehr “Einzelnen” auch zugute käme – in dem Sinne, daß immer mehr Menschen eine Handhabe zur kreativen Aneignung der Umwelt gewinnen. Die nächste Frage beträfe den Künstler (den man dann fast ebenso in Anführungszeichen setzen sollte): Wird er tendenziell unwichtig oder nur desto wichtiger?

BP: Vielleicht ist es hier hilfreich, zwischen bewußter und unbewußter Produktion von Bildern zu unterscheiden. Das Bedürfnis des Einzelnen, sich und seine Umgebung fortwährend zu dokumentieren, nehme ich mehr als eine Art Lebensgefühl wahr, das sehr stark im Unbewußten wurzelt. Die persönliche Welt wird durch das reflexartige Antippen des IPhone-Auslösers zu einem Schneckenhaus von Bildern verarbeitet, in das man sich bei Bedarf vergangenheitsgewandt zurückzieht und aus dem man zugleich nach außen senden kann. Wenn man sich überlegt, daß heute viele menschliche Beziehungen, auch solche, die gefühlte Tiefen von Verliebtsein erreichen, nur via Internet stattfinden, wird ersichtlich, daß Bilder für Menschen eine Welt formen, in der die Realität nur noch enttäuschen kann. Wenn wir allerdings an diesem Punkt Bewußtsein mit ins Spiel bringen, somit Skepsis und die sich ergebende Distanz zu den Bildern, dann kommen wir zu einem Modell, in dem vielleicht Bilder und Wirklichkeit in friedlichen Einklang gebracht werden können. Dieses Bewußtsein kann ich aber auch beim besten Willen nicht in weiten Teilen der Menschheit finden, allerdings in den kleinen Nischen der Künstler und anderer Querdenker dieser Welt – womit sich deren Aufgabe heute als um so größer erweist.

AvD: “An diesem Punkt …” Mir fällt auf, daß ich – vielleicht ein wenig hartnäckig? – auf einen bestimmten Punkt immer wieder zurückkomme (oder zusteuere), der aber wohl besser als Grenzlinie zu verstehen ist: zwischen Bild und Wort. Und hier wird es schon schwierig: Müßte es etwa “Bild und Text” heißen – ist dies die treffende Dichotomie? Und ich erinnere mich, mit einiger Skepsis auf Godards Bemerkung reagiert zu haben (vor mehr als dreißig Jahren – und das Zitat stammte aus den 60ern), noch immer regiere die Sprache und werde das Bild unterdrückt. Ich hatte wohl das Gefühl, daß eher die Sprache am Verschwinden sei … Noch einmal zur schwierigen Unterscheidung: Natürlich gewinnt das Wort seine Macht erst durch eine Evokation der Vorstellungen; ebenso “natürlich” aber (und es stellt sich die Frage, ob hier nicht schon die unheilvollen Manipulationen beginnen) erhalten die meisten Bilder heutzutage erst ihre intrigant-provokante Wirkung durch das, was man – zunächst so neutral wie möglich – “verbale Applikation” nennen könnte. Wenn ich “heutzutage” sage, dann meine ich: In jedem Fall wirkt ein visueller Eindruck, der insofern “natürlich” zu nennen wäre, als er nicht präpariert ist (Ich sehe einen Baum; er ist real; ich kann auf ihn zugehen und ihn berühren, und alle Eigenschaften, die ich gegenwärtig an ihm wahrnehme, entsprechen dem, was ich von einem Baum weiß usw.), im ersten Augenblick auch ohne eine Stimme aus dem Off, die gewissermaßen als Bildunterschrift funktionierte; der erste Augenblick besteht aus: “Ich sehe einen Baum.” Sobald ich über den ersten Augenblick hinausgehe, trete ich in jenen Bereich, in dem der visuelle Eindruck zunehmend artifiziell wird und das, was an Reflexion hinzukommt, immer mehr einem visuellen Eindruck ähnelt, der ebensogut präpariert sein könnte. Was also “Bild” hieße, ist entweder/sowohl von meinen Vorstellungen (Erinnerungen, Wissen, Phantasie, auch Praxis usw.) oder/als auch von jenen Vorstellungen mitbestimmt, die ihm von anderer Seite eingegeben wurden – von jemandem, der es hergestellt hat. Von diesem Moment an gerät der visuelle Eindruck unter den Einfluß der Darstellung – was immer an Signifikanz, Relevanz, Referenz, Konnotationen, immer freieren Assoziationen usw. hinzukommt. Statt eines Baumes sehe ich das Bild eines Baumes; jedes Bild eines Baumes ist demnach das Bild eines schon einmal (anders) gesehenen Baumes, das durch den Bereich der Vorstellungen in den der Darstellung übergegangen ist. (An dieser umständlichen Beschreibung änderte sich nichts, auch wenn ich für “Baum” etwas setzte, das ich zum ersten Mal sähe; denn beim ersten Mal muß ich es nicht erkennen – das erste Mal entspricht nur jenem ersten Moment.) All das, was jenseits des ersten Momentes (des nicht präparierten Eindrucks) geschieht, ist Interpretation bzw. Repräsentation – und fällt dem Intelligiblen zu (wobei ich mich einer eigensinnigen Anwendung des Wortes “intelligibel” schuldig mache: abweichend von der philosophischen Konvention glaube ich daran, daß auch die Sinneswahrnehmung am vermeintlich rein Verstandesmäßigen teilhaben kann – daß dies sogar normalerweise der Fall ist; aber dies führt nun zu weit). “An diesem Punkt” also setzt die Sprache ein, und “heutzutage” scheint mir das Bild deshalb gefährlicher geworden zu sein, weil es selbst zunehmend gefährdet ist, nämlich durch den Einfluß einer verfälschten bzw. tendenziell verfälschenden Sprache. Ohne hier kulturkritisch auszuschweifen – was oben “verbale Applikation” hieß (also immer schon semantisch besetzt), ist zunehmend einer Manipulation jener “Evokation der Vorstellungen” ausgesetzt, einfach dadurch, daß z.B. für “Baum” etwas anderes behauptet bzw. in den Bereich der Vorstellung (in die Kette der Konnotationen) derart eingegriffen wird, bis das Beliebig-Entlegene fast unausweichlich mit dem Eigentlichen kurzgeschlossen ist. Man könnte sagen: unsere Medienwelt zeigt eine Tendenz zur pawlowschen Metaphorisierung – so daß z.B. (aus aktuellem Anlaß) von “nackt” sogleich “sexuell” abgeleitet wird. Um aber zum kreativen Potential jenes Punktes zu kommen: Ich glaube (und jeder bildende Künstler – was ich nicht bin – lebt in diesem Glauben) an eine Macht des Bildes, die nicht sogleich der Omni- bzw. Präpotenz der Sprache bzw. deren “rein” verbaler Disposition anheimfällt. Mit anderen Worten: Jeder bildende Künstler glaubt an eine Bildsprache (dies wäre: eine Signifikanz vor der Semantik bzw. eine Montage jenseits der Grammatik) – und weiß im Grunde, daß es sie gibt, in jedem Augenblick seiner Praxis, da er etwas noch nie (so) Gesehenes schafft. Auf diesem Grund allerdings gleicht der Künstler einem jeden – im Augenblick jeglicher ersten Wahrnehmung, deren Ursprünglichkeit vielen unheimlich geworden zu sein scheint. In diesem Sinne ist auch ein Gespräch über Bäume politisch relevant.

BP: Vielleicht geht es hier weniger um einen Glauben an diese Bildsprache, sondern mehr um ein Ausloten unseres Vermögens, in dieser Ursprünglichkeit überhaupt sehen zu können – zu fragen also, ob ein “natürlicher”, “nicht präparierter” Eindruck der Welt überhaupt noch möglich ist. Dies erscheint auf den ersten Blick so schwierig und nur wie eine theoretische Möglichkeit oder eine philosophische Anstrengung. Deswegen kommt hier wohl der Glaube ins Spiel. Gibt es die Möglichkeit, trotz unserer Prägung und Konditionierung zu dieser Unvoreingenommenheit im Sehen zu kommen? In der künstlerischen Praxis spielt dieser Glaube sicherlich eine Rolle. Ich denke allerdings, daß der Künstler, um zu dem “so nie Gesehenen” zu gelangen, alle Schichten dieser Ablagerungen durchforschen muß, die sich auf den Objekten unserer Betrachtung niedergelassen haben und unsere Sicht auf sie verzerren. Diese Ablagerungen hast Du gerade angesprochen. Sie kommen sowohl von eigenen, innenliegenden Vorstellungen als auch von außen, also von gesellschaftlichen Übereinkünften und Prägungen. Um beim Baum zu bleiben, besteht die Arbeit des Künstlers darin, ihn einer Art Röntgenaufnahme zu unterziehen, die einerseits die Ablagerungen nach außen hin unberührt und lesbar beläßt, sie aber vollends durchleuchtet und unsichtbar macht. Und darin den Baum als Baum aufscheinen läßt.

AvD: Wir kommen hier eigentlich auf eine alte Frage zurück, die in der Kunstgeschichte von Leonardo bis Valéry – mehr oder weniger explizit unter dem Begriff der Kontemplation – verhandelt wurde. Wie immer kommt es wohl darauf an, sie richtig zu stellen; sie sollte meines Erachtens nicht etwa lauten: “Wie finden wir zu einer unbefleckten Wahrnehmung zurück?” So gestellt, beantwortet sich die Frage selbst: Wir können uns nicht in eine Unschuld zurückversetzen – von der wir doch nur reden, weil sie zum Begriff geworden, also verloren ist. Jener Künstlerglaube meint bestimmt kein unberührtes Gefilde, in dem uns der Baum bereits anders erschiene, sondern – ganz in Deinem Sinne, wenn ich Dich richtig verstanden habe – eine besondere Einstellung, fast eine Technik, den Baum überhaupt als Erscheinung wahrzunehmen. Dies bedeutet nicht, daß es eine wahre Erscheinung für sich gibt, die gewissermaßen freigelegt werden könnte oder müßte, als sei der Gegenstand in einer bestimmten Gestalt wahr und nur unsere erworbenen Mittel, ihn zu erkennen und zu begreifen, verfälschten ihn; eher – auch dies wohl in Deinem Sinne, aber etwas philosophisch ausgedrückt –, daß unsere Wahrnehmung die Erscheinung nicht sogleich wieder ausschließt, vereinfacht zum einvernehmlich-eindeutigen Gegenstand, überführt in einen Diskurs, in dem wir möglichst reibungslos handlungsfähig bleiben. Einige unserer “erworbenen Mittel” haben durchaus diesen Zweck und sind unentbehrlich; anders könnten wir nicht kommunizieren. Der Künstler (d.h. der bildende Künstler, den ich aber hier nur als Stellvertreter für ein allgemeines Potential des Menschen einsetze) hat offenbar die Fähigkeit, sich mit seiner Wahrnehmung und der Erscheinung einzuschließen – zumindest für Augenblicke, die nicht meditativ sein müssen, auch etwas Schlagfertiges haben können. “Fähigkeit” besagt schon, daß es sich ebenso um ein erworbenes Mittel handelt (da wir den Künstler hier gewiß weder romantisieren noch pathologisieren wollen), das lediglich bevorzugt wird, während die anderen, der konventionellen Identifizierung dienenden, produktiv verdrängt werden. Wir brauchen uns nicht einmal auf die Aussagen der Künstler selbst zu verlassen; die Werke belegen es: eine ursprünglich umfassende Anschauung, die für sich bereits strukturiert ist (ohne sogleich ins Konventionell-Kommensurable konvertiert zu werden), beläßt die Erscheinung in ihren gleichgültig auseinandergelegten Eigenschaften; die Anschauung, indem sie selbst zur Gestalt kommen will, ordnet jene Eigenschaften gemäß der selben Struktur. Dieser Vorgang ist sehr wohl ein analytischer, nur daß solche Analyse nicht logisch, sondern formal funktioniert; er ist synthetisch, nur daß er nicht zum Begriff, sondern zum Bild kommen will. Und die Werke belegen es einfach dadurch, daß an ihnen kein außerhalb ihrer spezifischen Logik haltbarer Grund etwa dafür auszumachen ist, daß Vermeer eine bestimmte Stelle durch ein besonderes Gelb betonte (was ebenso für das fünfte jener Objekte gilt, die Donald Judd Suite of five Chairs #84/85 in multiple colors of Finland Color Plywood nannte). Daß wir von “Werken” sprechen, belegt allerdings auch, daß jene ursprüngliche Anschauung in Arbeit, jene Technik also aus dem – sagen wir – Momentan-Dispositiven ins Methodische überführt wurde; hier tritt all das in Kraft, was in jeglicher Reflexion hinzukommt, nur daß die künstlerische Reflexion von einer besonderen Praxis bestimmt ist, in der eine inkommensurable in eine professionelle Konzeption übersetzt wird und sich in einer Ausführung fortsetzt, die auf der selben Ebene für einen Betrachter zugänglich wird, auf der auch die Reflexionen des Künstlers formalisiert und intelligibel geworden sind – weshalb der eine mit dem anderen darüber reden kann: über den Einfluß Vermeers, einen seltsamen Lichteinfall ins Atelier, irgendein Materialproblem, den Wunsch (vielleicht des Galeristen), eine Serie von 12 rechtzeitig fertigzustellen, oder die Magenverstimmung an einem Nachmittag … Man könnte sagen: Das allen gemeinsame Bedürfnis zu verstehen äußert sich bei einigen Exemplaren der Gattung nicht in der geläufig-einvernehmlichen Benennung; es entäußert sich – im Sinne der Vergegenständlichung – in einer Gestalt. Diese Gestalt, übrigens, muß kein Werk der bildenden Kunst sein. Um aber bei dieser Kunst zu bleiben – ich gebe zu, daß ich das, was Du wohl mit “Röntgenaufnahme” meintest, vielleicht nur allzu aufwendig umschrieben habe. Ich hatte es darauf abgesehen, das, was wir beide dem Künstler als Fähigkeit attestieren, als eine Möglichkeit zu entwerfen, die jeder aktivieren kann – oder könnte, wenn unsere Welt heute anders eingerichtet wäre. Zur aktuellen Einrichtung gehört es aber, daß jemand, der Künstler werden will, bereits in den jeder Professionalisierung vorausgehenden Entwicklungsjahren in einer Weise konditioniert worden ist, die allem Künstlerischen (wie Du oder ich es noch verstehen) fast totalitär widerspricht. Oder kann diese Konditionierung (die immer früher ansetzende Sozialisierung der Sensibilität) wiederum jene Technik, etwas “überhaupt als Erscheinung wahrzunehmen”, in einer Weise ausbilden, die zumindest ich noch nicht erkenne?

BP: Ich hatte erst kürzlich Gelegenheit, eine Jeff Koons Retrospektive im Whitney Museum zu sehen. Er kommt mir gerade in den Sinn, wenn wir über Konditionierung sprechen. Es hat mich ein wenig amüsiert zu sehen, wie sehr Koons verliebt ist in das Material und die Form, die er benutzt, und wie wenig Distanz er dazu hat. Abgesehen davon, daß er ein ausgefuchster Geschäf0tsmann ist, kommt er mir vor, als wäre er einfach hin und weg von Glanz und Farbe seiner Skulpturen und Bilder. Wenn man das in unserem Kontext weiterspinnen will, könnte man darauf kommen, daß Koons als Parade-Amerikaner sich seine Konditionierung durch die amerikanische Wunderwelt des Konsums zunutze macht, ja sich darin genußvoll badet. Koons ist – mit vielen anderen Künstlern heute – also nicht an jener Technik interessiert, welche die Erscheinung der Dinge sucht, sondern er interessiert sich im wahrsten Sinne des Wortes für den Schein der Dinge, und in seinen besten Arbeiten gelingt es ihm, diesen Schein als solchen freizulegen. Man denke beispielsweise an seinen Bunny, der jede Möglichkeit einer Erscheinung dieses Hasens an sich in seiner Oberfläche gerinnen läßt, in der wir uns dann selbst auch noch spiegeln. Koons führt uns den Schein in seiner Erscheinung vor! Dies wäre mein Gedankengang hinsichtlich Deiner Frage, ob eine Konditionierung dazu beitragen kann, zur Erscheinung zu gelangen. In unserem Modell allerdings sehe ich den Künstler eigentlich als jemanden, in dem ein Umkehrprozeß der Konditionierung der Entwicklungsjahre stattfindet, der ein Leben lang Energie liefern kann. Damit meine ich nicht etwa im esoterischen Sinne ein Zu-sich-selbst-finden, vielleicht eher ein Zur-Welt-finden, ein lebenslanges Freiwischen der Sicht auf Dinge und Begebenheiten. Wenn man mit jungen Künstlern und jungen Kunststudenten zu tun hat, wird aber auch sehr deutlich, daß dieses Modell dabei, ist ausrangiert zu werden.

AvD: “… der jede Möglichkeit einer Erscheinung … gerinnen läßt”, das entspricht vielleicht der “Erscheinung in ihren gleichgültig auseinandergelegten Eigenschaften” und führt überhaupt zum Problem der Darstellung: als einer Reduktion des Austausches Wahrnehmung-Erscheinung auf den Modus des Augenblicks, einer Aktualität der Teile in ihren Beziehungen (das Nahe und Ferne gleichgeschaltet, ebenso wie arbiträr und signifikant, Traum und Geschichte, Figur und Struktur usw.), als sei jede Darstellung der gefrorene Moment einer zufälligen Geometrie, konstruktiv nachvollzogen – was uns vielleicht dazu verleitet zu glauben, die Photographie sei etwas wie ein paradigmatisches Medium, und sogleich die Frage aufwirft, wie demnach die Kinematographie zu verstehen sei: eine Erweiterung/Verflüssigung jenes Augenblicks, die eine ausführlichere Montage erfordert? Um auf Jeff Koons zurückzukommen – was ich, zugegeben, immer ganz gern tue; deshalb nur eine bittere Randbemerkung: Ich fürchte, die uns nachfolgende Generation kann von der Erziehung und Ausbildung jenes Künstlers (oder, mit Verlaub, einer Barbara Probst) nur träumen. Allerdings führen wir beide diesen Dialog ja auch deshalb, weil wir auf die Ausnahmen setzen.

BP: Hier kann man doch die Verschiedenartigkeit zwischen Photographie und Film sehr schön festmachen: Es ist, wie Du sagst der Modus des Augenblicks, der die Photographie ausmacht und den entscheidenden Unterschied zum Film birgt. In der Photographie ist der Augenblick ganz rigoros und fundamental ohne ein Davor und Danach. Es ist der Betrachter, der reflexhaft über dieses Davor und Danach spekuliert und damit eine Erzählung in die Photographie hineinliest. Diese Erzählungen sind aber naturgemäß unbeweisbar. Sie tappen im Dunkeln. Denn sicher ist nur, was die Ablichtung des Zeitschnipsels (als “Aktualität der Teile in ihren Beziehungen”) zeigt, in dem der Auslöser gedrückt wurde. Unsicher ist jegliche Geschichte über den Kontext dieses Zeitschnipsels. Ganz anders verhält es sich beim Film: ein Film ist ein chronologisches Ineinanderfließen der Augenblicke. Jeder Augenblick liegt im Kontext aller ihn umgebenden Augenblicke. Die Erzählung ist also unumgänglich durch diese Chronologie dem Film innewohnend und relativ eindeutig lesbar; der Film braucht sozusagen den Betrachter nicht, um Erzählung zu sein. Ganz im Gegensatz zur Photographie, in der doch die Erzählung nur existiert, wenn sie vom Betrachter mutmaßend hineingelesen wird.

AvD: Hier wird es kritisch. Daß der Modus des Augenblicks die Photographie ausmache, ist eher eine Verkürzung, die mir vom Wesentlichen abzulenken scheint. Es ist eine Gleichung, die jedermann sofort einleuchtet (und gegen die in erster Instanz auch nichts einzuwenden ist). Aber es sind in Wahrheit zwei Gleichungen: die eine bezeichnet ein Prinzip jeglicher Darstellung, die andere das Allgemeingültige einer besonderen Anwendung – das sich mit jenem Prinzip auf einer metaphorischen Ebene wunderbar deckt. Die meisten Versuche, Photographie und Film kategorisch voneinander abzugrenzen, beziehen sich nur auf die häufigsten Formen der einen wie des anderen. Weder ist die Photographie (wie zumeist das einzelne Bild genannt wird) notwendigerweise auf den fixierten Moment beschränkt noch allem Narrativen enthoben; weder ist der Film (die Bildfolge oder der Bildfluß) notwendigerweise einer Kohärenz durch Zeit überantwortet noch der Erzählung verschrieben. Ich meine hingegen, daß Photographie das Medium für dieses und jenes ist (in wenigstens vier möglichen Kombinationen): eine Photographie von Cartier-Bresson ist ebenso Photographie wie ein Film von Bresson; mein Bedürfnis, jene zu lesen, kann meine Phantasie ins Narrative ausschlagen lassen, und dieser mag das Narrative auch einmal nicht zum Zuge kommen lassen. Das Entscheidende scheint mir nicht Zeit oder Nicht-Zeit zu sein (was die Photographie in zwei Gebiete teilte), sondern Aufnahme oder Nicht-Aufnahme (was die Photographie von anderen Darstellungsformen trennt). Weiter: Darstellung, die notwendigerweise (auch) Aufnahme ist, oder Darstellung, die keinesfalls Aufnahme ist. Das Zeitliche bzw. Geschichtliche (nicht unbedingt Erzählerische) fließt in jenem Medium unausweichlich verbunden mit dem Gegenstand ein, in jedem anderen Medium unabdingbar mit einer Idee des Gegenstandes. In jenem Medium ist Gegenstand gleich eine Gegebenheit (und sei es das manipulierte Licht – auch das ist da), in diesem zumindest gleich eine Gegebenheit plus Nachahmung bzw. Auftrag (Farbe auf Leinwand). Nach meinem Verständnis gelten diese Unterscheidungen für jede Art der Photographie (ob festes oder bewegtes Bild) wie andererseits für jede übrige Technik. Es ist die Unterscheidung zwischen Darstellung durch Aufnahme plus Darstellung und Darstellung durch Darstellung. Ich glaube, man muß diese Dinge einmal so stur- formelhaft (so primitiv wie möglich) beschreiben; anders kommt man nicht zur Sache. Zur Klarstellung gehört: Photoshop ist nicht Photographie, sondern Malerei; Photographie kann auch Malerei sein. Und: Was vom Betrachter hineingelesen wird, hängt nicht vom Medium, sondern von den mit einem Medium verbundenen Konventionen ab, die mit dem Medium wechseln bzw. in jedem Medium manipuliert werden können.

BP: Der Grund, warum ich an dieser vereinfachten und überhaupt an einer Differenzierung von Photographie und Film interessiert bin liegt wahrscheinlich in meiner eigenen Praxis der Photographie, die sehr viel mit Film zu haben scheint, sich aber sehr deutlich davon abhebt. Im Wechsel von Photographie (als Hersteller) zum Film (als Betrachter – da ich keinen Film mache) erscheint mir der Aspekt des Augenblicks in der Photographie und der des Zeitkontinuums im Film immer ausschlaggebend. Ich verstehe Deine klare Beleuchtung der Problematik, möchte aber trotzdem noch einmal darauf zurückkommen, ohne auf meiner vorherigen These beharren zu wollen. Ich möchte einen Aspekt hinzufügen, der vom Hersteller der Photographie bzw. des Films aus gedacht ist, genauer gesagt, von den Möglichkeiten des Photographen bzw. des Filmemachers, die Lesart des Erzählerischen in dem jeweiligen Medium zu beeinflussen, zu formen oder auch festzulegen. In dieser Hinsicht hat wohl der Photograph gewissermaßen eingeschränkte Kontrolle. Er hat natürlich alle Möglichkeiten der Darstellung, um die Photographie so erscheinen zu lassen, wie er sie sich wünscht. Jedoch hat er beschränkte Kontrolle über die Erzählung, die hineingelesen wird, weil ein Sekundenbruchteil meist nicht repräsentativ ist für das Kontinuum, aus dem es herausgebrochen wird. Der Filmemacher hat durch die Tatsache, daß er mehr als einen Augenblick aus dem Kontinuum zeigen kann die Möglichkeit, die Lesart des Betrachters genauer festzulegen. Bei Hitchcock ist in jeder Sekunde dafür gesorgt, daß der Betrachter genau die Geschichte so versteht, wie sie vom Regisseur gedacht war. Aber auch bei sogenannten nichterzählerischen (non narrative), fast abstrakten Filmen wie Warhols Empire State Building ist schlicht durch die aufgenommene Zeitspanne (oder auch durch die Aneinanderreihung von 24 Photographien bzw. Bildern pro Sekunde) die Lesart viel stärker durch den Regisseur formbar und kontrollierbar, da eine Handlung (auch wenn es nur das flimmernde Licht des Empire State Buildings ist) über einen längeren Zeitausschnitt frame by frame (Bild für Bild) definiert wird. Wenn hingegen Cartier-Bressons Potographie zum Film wird (was ich sehr gut nachvollziehen kann), dann ist das ein Film, der rein im Kopf des Betrachters stattfindet. Und jeder Betrachter sieht vermutlich einen anderen Film vor seinem inneren Auge. Hinsichtlich Photoshop finde ich wichtig, den Aspekt miteinzubeziehen, daß dieses Programm aus der Methode und Technik der Photographie hervorgegangen ist. Es bietet Techniken an, über die sich die Photographen des 19. Jahrhunderts gefreut hätten, weil sie ähnliche Versuche auf analoge Weise unternommen haben. Collagen, Mehrfachbelichtungen, Retuschen und noch viel mehr. Photoshop gab es gewissermassen schon, seit die Photographie erfunden wurde, aber eben als analoge Technik. Es gab dazu eine sehr aufschlußreiche Ausstellung im Metropolitan Museum: Faking it/Manipulated Photography before Photoshop. Die Frage: “Ist das noch Photographie”, hat sich also damals schon gestellt. Deswegen sind doch die Grenzen sehr schwer zu ziehen, wann etwas nicht mehr Photographie oder schon Malerei ist und umgekehrt. Aber es gibt auch viele eindeutige Beispiele, wie Jeff Wall, den ich ganz klar als Maler sehe.

AvD: Vielleicht – und auf die Gefahr hin, mich endgültig zu verrennen – hätte ich es noch weiter zuspitzen und hinzufügen sollen: Das photographische Bild ist unabdingbar Reflexion auf etwas Gegebenes (ungeachtet jeglicher Manipulation vorher oder nachher), also Aufzeichnung; das nichtphotographische Bild ist von Gegebenem nur mehr oder weniger abhängig, unabdingbar aber von einer Konzeption, also jeglichem Vorher und Nachher. Photographisches Bild und Idee können deckungsgleich sein, nichtphotographisches Bild und Idee nicht. Selbstverständlich gilt, daß immer irgendeine materielle Bewandtnis im Spiel ist – à la Francis Coppola: “The emotion of film is in the emulsion” … allerdings ein Bonmot aus den 70ern. Und ein Spitzfindiger könnte sagen: auch eine Idee (im Kopf eines Malers) ist eine Gegebenheit. Der Unterschied besteht einfach zwischen einem Baum, der vor mir steht und den ich ablichte, und einem Baum, den ich mir vorstelle und der mich zu allerlei Darstellungen anregen mag; daß ich im Zuge oder im Nachtrag der Ablichtung allerlei anstellen und daß eine nur meiner Vorstellung gehorchende Darstellung ebenso ein täuschend ähnliches (etwa photorealistisches) Bild des Baumes ergeben kann, ist wohl klar. (Nochmals zu Photoshop: Nach meinem Verständnis ist diese Form der Bildbearbeitung nicht notwendigerweise an eine ursprünglich photographische Vorlage gebunden: wenn man eine photographische Reproduktion von Guernica per Photoshop bearbeitet – was heutzutage fast zum Welterklärungsmodell taugt –, dann ist die ursprüngliche Vorlage das Gemälde, die Photographie nur ein Zwischenträger. Gegenstand der Bearbeitung ist eine Datei, deren Inhalt durch jegliche Technik vorgegeben sein mag.) Ich bin wohl – als Laie notgedrungen – ein verkappter Ideologe: mich interessiert das Verhältnis von Bild und Realität.

Andreas van Dühren
Text, issue 13, Berlin, p.45-53
2015