Fotografische Szenen, Thomas Ruff, Wolfgang Tillmanns, Barbara Probst

“Jede Diskussion über Dokumentarfotografie landet heute zwangsläufig bei den Bechers (…)”, schreibt Walter Grasskamp 1983 in einem Essay zur Ästhetik der (deutschen) Dokumentarfotografie. Jede Diskussion über künstlerische Fotografie (nicht nur in Deutschland) landet heute früher oder später bei der Becher-Schule, liesse sich 2002 hinzufügen. Dass die Rolle des Standorts Düsseldorf im Rahmen zeitgenössischer Fotografie sich allerdings nicht darin erschöpft, zeigte kürzlich das zweiteilige Ausstellungsprojekt “heute bis jetzt” im “museum kunst palast”. Der zweite Teil, vorwiegend der jüngeren Generation gewidmet, präsentierte dabei eine Bandbreite von fotografischen Positionen und Zugängen zum fotografischen Bild, die nicht mehr unter dem Begriff der Becher-Schule subsumiert werden können: Claus Goedicke, Barbara Probst, Nina Pohl, Laurenz Berges und Lois Renner zeigen – unter anderen – sowohl Reinterpretationen von Sachlichkeit, ein neues Interesse an narrativen Mustern und der unmittelbaren alltäglichen Umgebung, die Erarbeitung experimenteller Bildkonzepte unter dem Einfluss der (neuen) Medien, inszenatorische Strategien und ganz allgemein eine selbstverständliche Reflexion von Fragestellungen zeitgenössischer Kunst. Die Trennung von Kunst und Fotografie ist – endlich – obsolet.

Dennoch sind es nach wie vor jene KünstlerInnen, die sich im engeren Sinn als Düsseldorfer Schule bezeichnen liessen, d. h. Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff und Thomas Struth, die seit den 90er Jahren zu den international erfolgreichsten FotografInnen der Gegenwart zählen. Dieser Umstand ist insofern interessant, weil es sich dabei sozusagen um fotografische Fotografie handelt, um eine auf den ersten Blick durchwegs sachliche, distanzierte Repräsentationsweise, und nicht um fotografische Experimente, die, wie etwa bei Sigmar Polke, eine formale wie produktionstechnische Affinität zur Malerei beinhalten, und auch nicht um Reinterpretationen der Pop Art oder konzeptueller fotografischer Strategien in der Nachfolge etwa Hans-Peter Feldmanns.

Jean-Francois Chevier erkannte mit Bezug auf Carl André in den voluminösen Serien der Bechers eine Nähe zur strukturalistischen Tätigkeit: ein Objekt zu rekonstruieren, sodaß in dieser Rekonstruktion die Funktionen des Objekts sichtbar werden; das Reale wird erfasst, zerlegt und wieder zusammengesetzt. Es geht also gerade auch bei einer, oberflächlich betrachtet, sachlichen Dokumentarfotografie nicht einfach um die absichtslose Tätigkeit eines mechanischen Apparates: es geht vielmehr um die absichtsvolle Rekonstruktion der Wirklichkeit unter den Bedingungen einer autonomen kulturellen Produktionsform, die technisch bedingt, aber nicht hinreichend technisch definiert ist und die ebenso ästhetisch bedingt, aber nicht hinreichend ästhetisch definiert ist. Unter dieser Voraussetzung steht die Institutionalisierung der Fotografie als zeitgenössische Kunst in den 80er und ihr großer Erfolg in den 90er Jahren in Zusammenhang mit einer Re-Positionierung der Fotografie insgesamt im Feld zeitgenössischer Bildvorstellungen bzw. einer visuellen Kultur, die Bilder nicht mehr als Spiegel der Wirklichkeit versteht, sondern diese als im Kern des Realen selbst verankert voraussetzt. Die fotografischen Bilder der 80er und 90er Jahre – und somit auch jene der sogenannten Becher-Schule – sind das Resultat eines bereits aus der Bahn geworfenen, dezentrierten und (medial) zerstreuten Sehens. “Entwürfe und Lösungen werden nicht mehr außerhalb des Bildes gesucht, sondern im Bild gefunden.” (Ute Eskildsen)

Die großformatigen Portraits von Thomas Ruff aus Mitte der 80er Jahre, die ihren Ausgangspunkt bei Passfotos nahmen, lassen sich durchaus durch diese Schaffung einer fotografischen Szene beschreiben: die Monumentalisierung der Individuen im und durch das fotografische Bild zeugen nicht mehr von Sachlichkeit, sondern von der Produktion eines Referenten durch die Fotografie selbst. “Es muß erfunden, nachgebildet werden, um dem discursus Wahrscheinlicheit zu verleihen.” (Jean-Francois Lyotard) Andreas Gurskys ebenfalls großformatige Aufnahmen von Menschenmassen (ob in der Produktionshalle, der Börse oder einer Schihütte) sind ebenfalls durch diesen halluzinatorischen Repräsentationsmodus gekennzeichnet, durch den das Bild wirklicher als die Wirklichkeit erscheint. Und diese Bilder müssen auch wirklicher als wirklich erscheinen im Rahmen einer Kultur, die sich vom Wirklichen verabschiedet hat und sich (wenn auch oftmals in Form einer naiven Utopie) dem Virtuellen zuwendet. Der sogenannte Dokumentarismus verwandelt sich gewissermaßen in eine Form der hypothetischen Vergewisserung von Wirklichkeit, die in dieser Form nur über das Medium Fotografie erreicht werden kann. “Das Bild wird zu einem Objekt des Begehrens, des Begehrens nach Bedeutung, von der man weiß, dass sie fehlt.” (Douglas Crimp) Und, wie sich hinzufügen lässt, nach einer Wirklichkeit, von der man weiss, dass sie nicht existiert.

Im Rahmen jener FotografInnen, die hier als Düsseldorfer Schule bezeichnet werden, hat sich sicherlich Thomas Ruff als vielseitigster Vertreter erwiesen hat. Bis heute entstanden, zum Teil parallel, 15 Serien, in denen jeweils spezifische Genres der Fotografie verarbeitet werden und die auch inhaltlich eine große Bandbreite aufweisen. Von den “Porträts” der 80er Jahre, über die “Sternenfotografien” Anfang der 90er Jahre bis hin zu den “Nudes” Ende der 90er Jahre hat sich Thomas Ruff vielfältige Strategien der Thematisierung von Fotografie als zeitgenössisches Bildmedium erarbeitet. Die “Nudes”-Serie nimmt Bildvorlagen von Pornoseiten im World Wide Web zum Ausgangspunkt, die in einer Weise überarbeitet werden, die zugleich ihren digitalen Ursprung betont, wie in der Ästhetik auf malerische Positionen, allen voran jener Gerhard Richters, bezug nimmt. Ruff positioniert die Fotografie damit im Rahmen aktueller Repräsentationspolitiken (Ausgangspunkte für die Serien sind immer wieder auch alltagskulturelle Bildformen, wie Postkarten, Zeitungs- oder Passfotos), wodurch sich die Frage, ob Fotografie als visueller Diskurs im grundsätzlich Post-Fotografischen Bilduniversum der Gegenwart verschwinden könnte, in dieser Form gar nicht stellen lässt. Beispielhaft wird bei Thomas Ruff die Fotografie als flexibles und adaptierbares Medium in Szene gesetzt, dass sich in dieser Form durch kein anderes Medium ersetzen lässt. Die “Nudes” werfen rückblickend auch ein differenzierteres Licht auf die frühen Architekturfotografien oder die Interieurs: im Mittelpunkt steht weniger die Repräsentation eine Sehens oder der Wahrnehmung eines Subjekts, sondern Verfahrensweisen mit Formen fotografischer Repräsentation selbst, die vergleichbar mit der Malerei längst selbstreflexiv geworden ist und ihre kulturellen wie medialen Produktionsbedingungen ständig redefiniert.

Parallel zu dieser Neubewertung von Bild, Abbild und Repräsentation unter Medienbedingungen bzw. geradezu jenseits der Becher-Schule hat etwa Wolfgang Tillmans, zunächst in Hamburg, seit 1992 in London lebend, eine völlig unterschiedlche Strategie des fotografischen Zugriffs entwickelt. Tillmans fotografiert unter Abwesenheit einer eindeutigen Methode, für ihn ist die Fotografie ein Medium der gesellschaftlichen Realität. Die Fotografien sind gewissermaßen Teil seiner Beziehung zur Umwelt, zu den verschiedenen Milieus, in denen er sich bewegt, und nicht zuletzt zu den Menschen, die diese Milieus bilden. Schien es auch so, als wäre Wolfgamg Tillmans eine Art Chronist von Jugend- und Subkulturen und besäße eine starke Affinität zu Mode und Lifestyle (auch wegen seiner frühen Zusammenarbeit mit i-D), so zeigen die Serien der letzten Jahre – “Aufsichten”, Stilleben, Wolkenbilder, Landschaftsaufnahmen aus großer Höhe, vor allem aber die “Blushes” und die “Mental Pictures” – ein Interesse an der Bandbreite fotografischer Bildästhetik. Sie dokumentieren die kontinuierliche Arbeit an der Frage danach, in welchem Verhältnis Kontrolle und Unvorhergesehenes stehen, wie weit die Kamera dazu zu bringen ist, das zu tun, was der Künstler von ihr will. Dieser Prozeß muss allerdings auch auf die älteren, “gegenständlichen” Fotografien bezogen werden – es handelte sich keinesfalls um Schnappschüsse, sondern um die konsequente Arbeit an der Übersetzung einer Wahrnehmung, die nicht alein visuell definiert ist, sondern die auch bestimmte Ideen über die Umwelt, das Soziale, Politik und die Menschen insgesamt beinhaltet. In den fotografischen Serien von Wolfgang Tillmans wird die Frage nach der Kontingenz virulent, sowohl im Sinne der Produktionsästhetik, als auch im Sinne kultureller Organisationsformen. Flüchtige und unwiederbringbare Konstellationen von Menschen – auf Parties, im privaten Bereich, selbst in der Pose vor der Kamera, die niemals völlig kontrolliert werden kann – korrespondieren mit den flüchtigen, abstrakten Erscheinungen der “Blushes”-Serie. Bei Wofgang Tillmans wird sowohl die Praxis des Fotografierens als auch die Erscheinungsform der Fotografien selbst als von Brüchen durchzogen erkennbar. Er arbeitet von Beginn an mit Unbestimmtheitsstellen in der fotografischen Codierung (Überbelichtung, starke Anschnitte, Farbverschiebungen etc.), die die Bilder – im Gegensatz zur Homogenität der Ruffschen Bildflächen – der “Regelhaftigkeit” fotografischer Praxen entziehen. Diese Störungen formaler Ordnungen weisen aber auf die Inkongruenz des fotografischen Zugriffs auf Wirklichkeiten insgesamt. “Denn das Fotografische (die theoretische Wirksamkeit des fotografischen Gegenstandes) ist ein Störfaktor.” (Régis Durand)

Fotografien werden heute ohne Zweifel als komplexe Texte auf der Suche nach einem Kontext verstanden, gekennzeichnet durch ein “komplexes Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körpern und Figurativität.” (W.J.T. Mitchell). Die analytische Arbeit am fotografischen Bild wird dementsprechend auf der Seite der ProduzentInnen gleichzeitig als eine Arbeit an der Visualität der Kultur insgesamt vorgenommen. Bezugnahmen auf das zeitgenössische Kino, auf neue Formen audiovisueller Ästhetiken und Narationen, aber auch Bezugnahmen auf die Geschichte der Fotografie selbst liegen gleichbedeutend im Horizont aktueller Produktionen.

Barbara Probst etwa untersucht sozusagen das Paradigma der Fotografie schlechthin: die Verbildichung eines konkreten Augenblicks, die Stillstellung von Zeit – den berühmten “Schnitt in den Referenten”, wie es André Bazin ausgedrückt hat, bzw. den vielzitierten “decisive moment” im Sinne Heri Cartier-Bressons. Die Serie der “Exposures” reflektiert diese Bedingtheit des fotografischen Bildes; ein flüchtiger Moment wird mehreren Fotoapparaten ausgesetzt, er stellt sich sozusagen für die Kameras aus. Unterschiedliches Filmmaterial, die unterschiedlichen Perspektiven auf die Lichtsetzung, verschiedene Belichtungszeiten und Tiefenschärfebereiche ergeben aber jeweils völlig unterschiedliche Ansichten dieses Augenblicks. Die fotografische Serie, die diesen Moment in eine Kontinuität von Bildern überführt, konstruiert dadurch eine Form des Bildraumes, der quasi zwischen den einzelnen Aufnahmen entsteht, als eine Art interbildliches Verweissystem. Die Ästhetik dieser Bilder, ihre serielle Montage wie die Dramaturgie, die sich daraus ergibt – wie etwa in “Exposure #9, N.Y.C., Grand Central Station, 18.12.01, 13:21 Uhr” – verweist wiederum auf Erzählformen des Kinos, als handle es sich um eine Montage von Filmstills, die in elliptischer Form eine Handlung darstellen, die durch die Betrachter nicht vollständig zu rekonstruieren sind (auch der Umstand, dass die Künstlerin selbst im Mittelpunkt der Szene steht, verweist dabei auf die “Film Stills” von Cindy Sherman).

Letzten Endes drehen sich diese Serien um eine neuerliche und immer wieder notwendige Befragung der Möglichkeiten fotografischer Produktion, eine Befragung der Stellung der Fotografie im Rahmen einer medientechnisch aufgerüsteten Gegenwart, die durch Begriffe wie Information, Interaktion, Kommunikation und Manipulation von Daten gekennzeichnet ist. Fotografie hat nach wie vor ein anderes Verhältnis zu Raum und Zeit als digitale Aufzeichnungs- und Produktionssysteme. Der Index der Fotografie bezieht sich heute somit auf eine Wirklichkeitskonstellation, die bereits unter dem Einfluss visueller Massenmedien entstanden ist, welche völlig anderen Möglichkeitsbedingungen unterliegen. Der Gegenstand der fotografischen Arbeit ist heute bereits eine Form der Visualisierung von Kultur – Douglas Crimp hat dies folgendermaßen ausgedrückt: “Unterhalb jedes Bilder befindet sich stets ein weiteres Bild.”

“Die Fotografie enthüllt die Wirklichkeit und stellt ihr eine bildwirksame Diagnose”, schrieb Klaus Honnef 1977 über die Arbeit des Fotografen. Doch diese bildwirksame Diagnose wird – und das zeigt sich sowohl an den Arbeiten der Düsseldorfer Schule, an den Serien Wolfgang Tillmans wie an jenen von Barbara Probst – heute nicht mehr durch “Differenzen von Kompositionen, Rhythmen oder formalen Lösungen da wahrgenommen, wo die Zerstreutheit des Alltags nur Indifferenz und Standardisierung erkennen lässt” (Thiery de Duve). Die Zerstreutheut des Alltäglichen ist bereits eine Zerstreutheit in und durch Bilder. Während Thomas Ruff dieser Zerstreutheit die Schaffung einer fotografischen Szene entgegenstellt und Wolfgang Tillmans die Kontingenz der Verbildichung forciert, rekonstruiert Barbara Probst gewissermaßen deren Ausgangspunkt.

In jedem Fall sind diese Bilder und nach wie vor Symptome eines Diskurses über Wirklichkeiten, ihre Herstellung und Verteilung, und sie spiegeln jene Prozesse, in denen “Subjekt und Objekt von einem System der Repräsentation vermittelt werden” (Timothy Druckrey). Insofern zeigt sich auch in der zeitgenössischen deutschen Fotografie ein Diskurs über neue Bildwirklichkeiten, die heterogen, flüchtig, ideologisch, rhetorisch und verführerisch auftreten, in jedem Fall aber nach wie vor ein zentrales kulturelles Kommunikationssystem darstellen. Sich dabei der Fotografie zu bedienen, zeugt nicht zuletzt auch von einer gewissen Widerständigkeit gegenüber einer “Verflüssigung der Gegenständlichkeit” insgesamt, die die gegenwärtige Kultur zu kennzeichnen scheint.

Reinhard Braun
Modern Painters, Dezember, p. 90-93
2002