Es könnte so gewesen sein

Die Tatsache, dass uns gewisse Details oder Stimmungen in einer Fotografie berühren können und uns scheinbar mit einer einmal dagewesenen Wirklichkeit verbinden können, ist uns wohl vertraut. Die Malerei zum Beispiel kann uns nicht auf die gleiche Weise anrühren, weil alles in ihr auf die Absicht des Malers verweist und sie sich über den Pinselstrich des Malers unmittelbar als fiktiv erklärt. Die Fotografie deutet äußerst selten auf ihren Hersteller hin. Sie ist zu sehr damit beschäftigt auf das zu verweisen, was in ihr dargestellt ist, auf das, was da einmal war. Und genau deshalb, weil es so scheint, dass es wirklich so war, wie die Fotografie es uns vorführt, kann es uns berühren.

Was aber, wären wir am Aufnahmeort im Moment des Auslösens zugegen gewesen? Wäre uns dann das, was uns nun in der Fotografie berührt, ebenso zu Herzen gegangen? Hätten Roland Barthes die Spangenschuhe der Schwester1 im Foto der amerikanischen Familie ebenso angerührt, wäre er am Set neben dem Fotografen gestanden? Oder ist genau dieses bewegende Detail erst in der Fotografie zu Tage getreten?

Klar ist, dass wir im Kontinuum des Lebens anders sehen als die Kamera es tut, wenn sie einen Sekundenbruchteil einfriert. Sonderbarkeiten, die in der Fotografie aufblitzen entgehen mit hoher Wahrscheinlichkeit unserem Auge. Aber viel wesentlicher als diese Eigenschaft des fotografischen Apparates durch das Einfrieren eines kurzen Moments zu verfremden sind hier die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten des Fotografen selbst, das Sujet darzustellen. Er bestimmt, wie die Wirklichkeit im Moment des Auslösens in ein fotografisches Bild überschrieben wird. Bei der Betrachtung einer Fotografie denken wir diesen Tatbestand nicht mit hinein. Wir denken nicht mit hinein, dass jeder Moment unendlich viele Möglichkeiten der Auslegung birgt und dass wir in dieser oder jener Fotografie nur eine Möglichkeit von vielen des “Es ist so gewesen” vor uns haben. Standpunkt, Ausschnitt, Tiefenschärfe, Licht und viele andere Einstellungen der Kamera bestimmen das Bild, seine Lesbarkeit und Stimmung. Eine bestimmte Kopfhaltung, ein Lichteinfall, eine Bewegung beispielsweise können von einem Standpunkt der Kamera aus wunderlich wirken, von einem anderen aus ganz alltäglich.

Innerhalb dieser Überlegungen wird die Fotografie von ihrem markanten Schein des “So ist es gewesen” entkoppelt. Es tut sich hier das “So koennte es gewesen sein” auf. Dieses “So koennte es gewesen sein” eröffnet ein Feld unendlicher Möglichkeiten. Möglichkeiten des Denkbaren und des Undenkbaren. In diesem Feld verlieren die fotografischen Kulissen, die sich zwischen uns und die Welt schieben, ihre Wirksamkeit. Ohne Zynismus, vielmehr im Interesse für das Phänomen der Wirklichkeit, ist hier zu vermerken, dass unsere Rührung über ein Detail oder eine Stimmung in einer Fotografie, sich –bis auf einen äußerst dünnen Faden zur Wirklichkeit- rein auf die fotografische Spur des vergangenen Moments bezieht, nicht aber auf das Vergangene selbst. Dennoch haben wir die starke Neigung diesen Tatbestand zu übersehen, um in der Fotografie das sehen zu können, was wir uns wünschen zu sehen.

Barbara Probst
New York, Juni 2014

1 Roland Barthes, Die Helle Kammer, Suhrkamp 1998, S.53/54


Punctum, Reflexions on Photography, published by Fotohof Edition and Salzburger Kunstverein, pp.162/163
2014