Gespräch von Barbara Probst und Johannes Meinhardt am 27. Juli 2006
Johannes Meinhardt: Ich hätte den Eindruck, dass es sinnvoll sein könnte, mit denjenigen speziellen Bedingungen von Fotografie zu beginnen, die darin liegen, dass Fotografien im Gegensatz zu Gemälden einen unerschütterlichen Wahrnehmungsglauben für sich haben, der gebunden ist an die Präsenz – in Raum und Zeit – dessen, was im Foto sich zeigt; daran, dass da etwas an einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort mit Sicherheit stattgefunden hat. Das sind ja beides, sowohl der Zeitpunkt als auch der Ort Aspekte, auf die Sie in Ihrer Arbeit massiv Bezug nehmen
Barbara Probst: In meiner Arbeit verbindet ja sowohl der Zeitpunkt als auch der Ort der Aufnahme unweigerlich die Bilder innerhalb einer Reihe, weil alle Bilder einer Reihe verschiedene Ansichten des selben Ortes oder Geschehnisses im selben Moment zeigen. Genau das ist die Grundvoraussetzung für das Funktionieren der „exposures“. Es müssen wirklich alle Bilder aus absolut dem selben Moment stammen, so dass die Bilder miteinander verbunden sind und jeweils nicht mehr als Einzelbild, sondern nur unter Berücksichtigung der anderen in der Reihe betrachtet und überdacht werden können.
JM: Das heißt beschreibend, dass Sie zum Teil viele, zum Teil nur zwei Aufnahmen genau derselben Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt aufnehmen – notwendigerweise aus verschiedenen Blickwinkeln, die ganz nah beieinander liegen können, die aber auch extrem unterschiedliche Positionen zeigen können. Auf diese Weise sprengen Sie eine Grundkonstellation der Fotografie, dass sie nämlich den Blick eines Fotografen zu sehen gibt, jenen Blick, den er durch die Kamera geworfen hat, sodass das Foto in gewissem Sinne dasjenige zu sehen gibt, was ein anderer im Moment der Aufnahme zu sehen bekommen hat – das sprengen Sie, indem Sie viele Blickpunkte, viele Blickwinkel, viele Positionen gleichzeitig einnehmen, die sich gegenseitig zu fassen bekommen, die sich, mindestens in vielen der Arbeiten, geradezu wörtlich gegenseitig wahrnehmen oder aufzeichnen?
BP:Ja, all diese Perspektiven fallen dann im Auge des Betrachters zusammen und der ist dann in der unglücklichen Lage, sich damit zurechtfinden zu müssen. Entweder lässt er sich darauf ein oder nicht. Wenn er sich darauf einlässt, dann versucht er vielleicht herauszufinden, wo er eigentlich steht, er versucht vielleicht die verschiedenen Perspektiven, die sich in seinem Standpunkt bündeln, zu entwirren und nachzuvollziehen, vielleicht verknüpft er dann die Bilder durch ihre inneren Bezüge. Und vielleicht stellt er mittels seiner Vorstellungskraft eine Art dreidimensionale Rekonstruktion der Situation her. Er geht also analytisch vor, genauso wie ich, wenn ich die Arbeiten entwerfe oder konzipiere.
JM: Der Betrachter unternimmt also mehrere räumliche Analysen und Synthesen: Die erste ist die, ausgehend von der Konstruktion des Blickwinkels eines jeden einzelnen Fotos, ein Geflecht oder eine Überkreuzung von Blickperspektiven aufzubauen; was auch den Betrachter dazu führen würde, ein multifokales Subjekt zu werden, an all diesen verschiedenen Punkten gleichzeitig anwesend zu sein. Das bringt ihn auf einer zweiten Ebene dazu, die gesamte räumliche Situation mental zu konstruieren, indem er dann sich nicht mehr an einem bestimmten Blickpunkt aufhält, sondern die räumlichen Verhältnisse und die Beziehungen der Blicke zueinander versteht – er befindet sich dann nicht mehr an einem bestimmten Punkt oder nur dem einzelnen Foto gegenüber, sondern er versteht die räumliche Konstellation und könnte sie aus der Vogelperspektive konstruieren.
BP: …oder er kann die räumlich nachvollzogene Szene im Geiste wie eine Skulptur von allen Seiten betrachten. Ich glaube, die Doppelporträts, die doppelten Doppelporträts, fordern die Standpunktfindung des Betrachters besonders deutlich heraus. Zwei Kameras sind auf zwei Leute gerichtet, die jeweils in eine andere Kamera schauen. Die zwei Kameras stehen sehr nahe nebeneinander, es gibt nur eine ganz leichte Verschiebung der Kamerablicke fast wie bei einer stereoskopischen Kamera, nur dass es hier zwei einzelne Apparate gibt, die dann jeweils die Aufmerksamkeit der Porträtierten auf sich ziehen. Der Eine schaut in die linke Kamera und die Andere schaut in die rechte Kamera und dadurch entstehen dann zwei Bilder, die sehr ähnlich aussehen aber dennoch sehr verschieden sind, weil diese sehr neutralen, emotionslosen Blicke der Portraitierten in den zwei Bildern jeweils anders wirken. Hier wird der Standpunkt des Betrachters deutlich irritiert: die Blicke sind auf ihn gerichtet und er muss jetzt eigentlich entscheiden, wo er hinsieht und von wo er wegsieht – nicht nur der Standpunkt des Betrachters, sondern auch sein Blick und seine Blickentscheidung wird da zum Thema der Arbeit.
JM: Deswegen ist in Ihren Fotografien die Gleichzeitigkeit so entscheidend: Es geht nicht primär nur um die Vielansichtigkeit der Objekte, und damit die Möglichkeit, unterschiedliche Genres von Fotografie ins Spiel zu bringen, sondern zuerst Mal geht es darum, dass diese Blickbeziehung – die ja auch eine Herrschaftsbeziehung ist und zugleich eine Beziehung zwischen Körper und Maschine – dass diese ihrerseits wieder erblickt wird, dass sie in eine solche Wechselbeziehung gerät, innerhalb derer niemand mehr, auch der Betrachter nicht mehr, sich sicher sein kann, nicht seinerseits wieder Objekt eines weiteren Blicks auf die Situation zu sein.
BP: Ja, das ist der Idealfall, wenn der Betrachter sich soweit darauf einlässt, dass er sich selbst als Teilnehmer der Szene sieht. Es gibt in meiner Arbeit so eine Art Rückkoppelung zwischen den Fotografierenden, die in den Bildern mit den Kameras vor ihren Gesichtern zu sehen sind und den Betrachtern der Bilder. Denn was die Fotografierenden in dem Augenblick sehen, wird oft jeweils durch ein anderes Bild in der Reihe wiedergegeben. Der Betrachter sieht also letztendlich, was alle Fotografen gesehen haben, ist aber selbst wieder Objekt der Betrachtung durch die Kameras, die ihn von den Bildern her anvisieren. Da fällt mir Dan Graham ein, mit dem ich mich auch sehr lange befasst habe. Das ist aber schon lange her. Aber er beschäftigt sich ja auch mit diesem Blicken und Erblickt-werden. In seiner Arbeit tauchen Fragen auf, die die Bewußtheit oder Unbewußtheit des Sehens und des Gesehen-werdens betreffen. Und der Betrachter ist bei Graham immer Teil der Arbeit. Das interessiert mich auch sehr. Eine Folge daraus ist, dass meine Arbeiten immer relativ groß sind, also dass sie selber einen Raum umspannen, der manchmal ähnlich groß ist wie der Raum, in dem sich die Kameras befunden haben. Der Betrachter muß sich dann auch im Ausstellungsraum bewegen um alle Bilder zu erfassen und um zwischen den Bildern hin- und her zu sehen.
JM: Wenn ich erst einmal die Vielheit der einzelnen Blickpositionen im eigenen Körper nachvollziehe, hat das natürlich auch mit den dementsprechenden Raumverhältnissen zu tun. Es handelt sich dabei nicht nur um unterschiedliche Größen, wie Nahaufnahmen und Totalen, sondern Sie nehmen häufig ja auch unterschiedliche Blickwinkel aus unterschiedlichen Höhen ein, beispielsweise von ganz Oben oder von Unten, was den Betrachter dazu nötigt, sich in seinem realen Raum gegenüber dem Bildraum zu positionieren – das ist sehr stark zu spüren. Das heißt also, derjenige, der die gesamte räumliche Situation mental rekonstruiert, ist in einer ganz anderen Einstellung als derjenige, der die einzelnen, sehr unterschiedlichen Positionen in seinem eigenen körperlichen Raum nachvollzieht. In gewissem Sinne springt der Betrachter in seinem Realraum hin und her: In die Ferne, in die Nähe, hinauf, hinunter.
BP: Die im Raum installierte Arbeit, die sich im Raum entfaltet und oft über Ecken geht, manchmal über zwei oder drei Ecken geht und somit wirklich einen Raum einschließt, die spiegelt eigentlich fast die Positionen der Kameras wieder, wie sie zum Objekt gestanden haben. Die stehen ja oft in 360 Grad um das Objekt herum – aber es ist nicht so, dass ich die Installation so baue, dass die Bilder das korrekt nachvollziehen, überhaupt nicht, nein.
JM: Ich würde jetzt gern auf die Zeit zu sprechen kommen. Und besonders interessiert mich da der zeitliche Status der fotografierten Situation. Immer wieder stellt sich vor Ihren Fotos die Frage: Wurde ein Zeitpunkt in der Realität aufgezeichnet? – so dass das Foto wie ein Schnappschuss funktioniert; oder ist es ein inszenierter Moment, der für das Foto eingerichtet wurde; oder ist das sogar ein still stehender Moment, der als Pose inszeniert wurde, ein Tableau vivant? Ob dieses Tableau von Ihnen oder von der Schauspielerin oder dem Modelll gestellt wurde, ist dann nicht die entscheidende Frage. Welche dieser drei möglichen Zeit- und Realitätsbeziehungen vorliegt, ist in ihren Fotos oft unentscheidbar. Sie formulieren das, glaube ich, so, dass die Szenen möglichst neutral sein sollen, möglichst unlesbar, im Sinne von: Dass sie nicht narrativ sind, dass sie nichts erzählen, dass sie nicht irgendwelche Kausalitäten eröffnen, sondern dass sie möglichst undurchdringlich bleiben.
BP: Viele Arbeiten sind wirklich vollkommen durchinszeniert, weil es auch, ganz pragmatisch gesehen, unheimlich schwierig ist, sieben Kameras auf eine nicht-inszenierte Situation einzustellen und die dann im richtigen Augenblick auszulösen. Aber es gibt auch viele Arbeiten, die eine inszenierte Szene, die in eine alltägliche Situation eingesetzt ist, zeigen, wobei dann Folgendes passiert: Man kann nicht mehr sehen, was inszeniert ist und was nicht inszeniert ist, aber das ist eigentlich bei jeder Fotografie der Fall.
JM: Unbestritten ist jedes Foto schon eine Theatralisierung der Realität. Davon spricht Barthes ja auch explizit, dass die Fotografie viel eher mit dem Theater verwandt ist als mit der Malerei. In vielen Ihrer Arbeiten hat man den Eindruck, dass man eine wahrnehmbare Haltung des oder der Fotografierten gegenüber dem Unter-dem-Blick-stehen sieht; aber es ist fast nicht mehr zu unterscheiden, ob diese Haltung eine Entscheidung ist oder nur das Ergebnis eines Ertragens und Aushaltens. Es zeigt sich z.B. ein Leerwerden des Blickes, oder umgekehrt ein geradezu körperliches Sich-dem-Blick-Gegenüberstellen oder auch Entgegenstemmen, eine Pose, oder ist diese Haltung nur die Ausführung von Etwas, was vorgegeben wurde, Schauspielerei ?
BP: Ja, das ist genau meine Absicht, dass das, was passiert, nicht definierbar oder wie Sie sagen, leer ist. Es liegt mir z.B. völlig fern, Requisiten zu benutzen, die die Situation viel eindeutiger machen würden. Wenn ich dem Modell eine Pistole in die Hand gebe, dann ist er sofort der Kriminelle, der das und das vorhat, und zwar von jeder Kameraperspektive aus. Wenn ich aber eine Person habe, die eine Bewegung macht, die undefinierbar ist, wenn man nicht sagen kann, ob die tanzt oder ob sie sich gegen das Fotografiert-werden wehrt oder irgendwas anderes, dann ist die Situation so offen, dass ich mit meinen Kameras, die diese Person umstellen, eigentlich alles daraus machen kann. Ich habe die größten Möglichkeiten, da zu interpretieren. Da kann ich dann mit einem Foto eine Schutzgeste daraus machen und mit dem anderen Foto kann ich eine tanzende Figur daraus machen. Deswegen suche ich eigentlich immer Posen… also das sind nicht nur die Posen, das ist auch die Kleidung, die möglichst wenig Bedeutung tragen soll oder auch die Situation an sich, die möglichst wenig Bedeutung in sich tragen soll. Naturgemäß ist ja jedes Foto narrativ und ich versuche dieses Narrative möglichst zurückzunehmen, undurchsichtig und dubios zu machen.
JM: Das wäre dann der vierte Punkt der Grundaspekte der Fotografie, den Sie sichtbar machen. Dass Fotografie sich erstens auf einen bestimmten Punkt im Raum und zweitens in der Zeit bezieht, ist selbstverständlich. Erst in dem Maße, in dem dies durch Ihre Verfahrensweisen explizit zum Thema wird und sichtbar wird, werden diese Selbstverständlichkeiten, die auch regeln, was wir sehen, selber wahrgenommen. Das betrifft drittens diese eigentümliche Herrschaftsbeziehung des Unter-dem-Blick-Stehens und des Erblickens, zu der ja auch gehört, dass man auf das Unter-dem-Blick-stehen reagiert – und viele Leute reagieren heute auf eine Kamera stärker als auf eine blickende Person. Der vierte Punkt ist, dass der Realitätsstatus von dem, was das Foto zu sehen gibt, nicht zu prüfen ist: Ich weiß nicht, wie zufällig oder wie intentional das Gezeigte ist, ich weiß nur, es hat stattgefunden; oder genauer gesagt, dieser eingefrorene Moment hat so existiert. Ob er für das Foto hergestellt wurde, ob er tatsächlich nur entdeckt und flüchtig erblickt wurde, oder ob die vorgefundene Realität inszeniert wurde, weiß ich nicht. Oder anders formuliert: Hier demonstriert sich die Tatsache, dass das Foto selber nicht spricht. Das Foto weiß nicht, was es zeigt, und sagt nicht, was es zeigt – es spricht immer nur aufgrund und vermittels seines Kontexts. In dem Maße, in dem Sie den Kontext soweit wie möglich zurückschneiden, bleibt nichts, bleibt nur diese irritierende Leere.
BP: Dieses Zurückschneiden aufs Minimale, auf den leeren Blick, auf die nichtssagende Situation rührt natürlich aus meinem Dilemma, dass ich irgendetwas fotografieren muss, um meine Arbeit zu machen. Für meine allererste Arbeit habe ich mir eine Dachsituation gesucht und habe mich selbst als Modell verwendet. Das war damals eine nahe liegende Lösung. Es war das erste Experiment der „exposures“ mit zwölf Kameras. Ich habe da nachts auf dem Hochhausdach diesen Sprung gemacht, der als Aktion auch völlig uneindeutig war. Durch diese erste zwölfteilige Arbeit habe ich dann genauer herausgefunden, wie ich weiter vorgehen könnte. Das habe ich dann weiter getrieben mit Modellen, die ich mir gesucht habe. Ich verwende auch immer wieder die gleichen Modelle. Es geht überhaupt nicht darum, immer wieder neue Gesichter in meiner Arbeit vorzustellen. Im Gegenteil, ich habe im Laufe meiner Arbeit immer mehr versucht, die Sujets zu reduzieren. Mich interessiert ja nicht, was dargestellt wird, sondern wie es dargestellt wird, die Möglichkeiten und Wirkungen der Darstellung. Es geht mir darum, zu untersuchen, was die Fotografie hervorbringen kann aus dem, was da war. Ich versuche also die gleichen Modelle, die gleiche Kleidung, die gleichen Posen immer wieder zu verwenden, ich versuche an die gleichen Orte zurückzugehen und so einen immer kleineren Raum einzukreisen, in dem ich meine Untersuchung betreiben kann. Ich glaube, je kleiner dieser Raum ist, desto genauer wird das, was ich da mache. Ich verwende die Modelle, die Kleidung, die Posen, die Orte wie Bausteine und die setze ich immer wieder neu zusammen. Ich habe da so einen Bausteinkasten, aus dem ich mich bediene, weil ich ja irgendwas fotografieren muss, damit ich über Fotografie und Wahrnehmung nachdenken kann. Ich könnte diese Arbeit ja in keinem anderen Medium sinnvoll umsetzen, auch nicht im Film, weil es da diesen beweiskräftigen Moment nicht gibt, den ich untersuche und mit Malerei schon gar nicht, weil das alles natürlich mit dem Quentchen Wahrheit zu tun hat, das in der Fotografie steckt und das meine Arbeit zusammen hält.
JM: Walter Benjamin spricht von diesem eigentümlichen Quentchen oder Moment von Wirklichkeit, von Kontingenz, das die Fotografie quasi durchsengt. Dieser wesentliche Aspekt wird sehr spürbar darin, dass Sie in sehr vielen der Fotos irgendwelche Elemente einbauen, die absolut kontingent sind, die also in der Zeit flüchtig und unkontrollierbar sind: Die Sonne oder Schatten, die weiterlaufen, Rauch, der emporsteigt…
BP: Seifenblasen.
JM: Ja, genau, also Aspekte, die tatsächlich mit der Realzeit und ihrer Unkontrollierbarkeit und der Kontingenz dessen, was da passiert, direkt zusammenhängen.
BP: Ja, ich benutze die Dinge eigentlich, um die Bilder noch besser oder deutlicher verbinden zu können: Als Signifikanz für den Moment. Meistens sind das Bilder, in denen die Modelle stillsitzen oder -stehen und dann versuche ich, ein flüchtiges oder vergängliches Element hineinzubringen, das signifikant ist für den Moment in allen Bildern.
JM: Aber wir wissen ja, das kann man nicht inszenieren. Ich kann nur versuchen…
BP: Das kann man nicht genau so inszenieren, man kann den Rauch nicht so hinkriegen, wie man das gern hätte und die Seifenblase wird auch nicht so groß, wie man die will oder so klein – ja, das stimmt. Da sind ganz viele Zufälligkeiten drin, die ich sehr gerne akzeptiere oder Fehler, die ich akzeptiere. Ich habe z.B. eine Arbeit gemacht auf einem Dach abends im Sommer bei ganz niedrigem Sonnenstand, wo sich einige Fotografen gegenseitig fotografiert haben. Da wusste ich, dass automatisch diese „Fehler“ entstehen. Durch den niedrigen Sonnenstand fällt die Sonne so ins Objektiv, dass es da ständig diese Reflexe gibt in der Linse. Und so war das auch. Die Bilder waren voller Fehler, beabsichtigter Fehler. Und genau die führen uns natürlich wieder zurück zum Fotografieren an sich und zu den Bedingungen der Fotografie. Die Fehler sind das Interessante.
JM: Das war das, was ich ja meinte, diese irreduzible Kontingenz, dieses Durchsengen der Wirklichkeit gehört ja auch zu den absolut wesentlichen Grundbedingungen des Fotos, obwohl ja die meisten Personen Fotos so behandeln, als ob sie einfach Bilder wären, die mit einer Bedeutung zu tun hätten, die was sagen würden, die etwas mitteilen würden über die Wirklichkeit – all das stimmt ja nicht und das zeigen Sie ja in verschiedenen Schritten, dass all das nicht stimmt.
BP: Am Anfang gab es für mich die Überlegung dies noch deutlicher oder vielleicht radikaler zu zeigen und völlig auf meine eigene Bildsprache und eigene Bildideen zu verzichten, indem ich Ikonen der Fotografie in meinen Bildern rekonstruiere und dann über den Moment des Auslösens miteinander verbinde. Aber ich habe mich dagegen entschieden, weil jedes Bild dann in sich so determiniert und schwer geworden wäre. Je offener die Bilder einer Reihe sind, je mehr sie eigentlich nur ungefähre Erinnerungen sind an etwas, was wir schon kennen, schon gesehen haben, und je mehr sie uns nur in Richtung einer Erinnerung leiten, desto mehr können sie Bezug nehmen aufeinander. Ein Bild leitet mich z.B. in die Richtung der glücklichen Werbewelt. Oder ein anderes Bild schickt mich in die Richtung des Film Noir – durch dieses Ungefähre sind die Bilder relativ offen und können miteinander Kontakt aufnehmen und darum geht’s ja in der Arbeit. Es geht ja nicht um die einzelnen Bilder und wie die einzelnen Bilder beurteilt werden können, ob die gut sind oder schlecht… das fällt ja völlig flach in meiner Arbeit. Es muss sofort das Spiel zwischen den Bildern aufgenommen werden.
JM: Ich hatte bei dem, woran die einzelnen Fotos erinnern, nicht den Eindruck, dass es sich nur um fotografische Genres oder Gattungen handelt. Bei vielen hatte ich den Eindruck gehabt, dass es sich eher um so etwas handelt wie eine ganz allgemeine, relativ neutrale anonyme Erinnerung, worüber z. B. Boltanski explizit gearbeitet hat: Jeder, der aus einer bestimmten Zeit stammt und aus einem bestimmten Milieu und aus einer bestimmten Gesellschaft hat vergleichbare und in ihren Grundtypen ganz ähnliche Repertoires an fotografischen Bildern.
BP: Ich meine, z.B. Cindy Sherman hat ja auch in ihren „untitled filmstills“ geschickterweise nicht bestimmte Filmszenen nachgestellt. Die Filmstills erinnern eigentlich an Erinnerungsfetzen von irgendwelchen Filmen und lassen uns rätseln. Aber dass es genau nicht die Nachstellung ist von einem Filmstill, ist interessant, weil es das Bild offen hält. Ich meine, bei Cindy Sherman ist es noch mal ganz was anderes, weil sie da noch das Selbstporträt mit reinbringt und alle ihre Arbeiten damit verknüpft; aber ich würde sagen, meine Bilder sind Schlüssel zu Erinnerungen.
JM: Persönliche Erinnerungen oder Erinnerungen an Bilder?
BP: Nein, Erinnerungen an Bilder und zwar verschiedenster Art, an Fernsehbilder oder an Werbebilder, an Familienbilder, an Schnappschüsse, an misslungene Bilder, an alle Bilder, die es gibt. Ich interessiere mich für alle Bilder, die es gibt. Letztendlich geht es da um all diese Schubladen, die wir in unserem Kopf haben, wo wir abgelegt haben, was wir gesehen und erkannt und eingeordnet haben ¬– darauf verweisen dann meine Bilder.
JM: Das ist sehr spürbar; in relativ vielen Ihrer Gruppen ist offensichtlich, dass sie eine sehr große Bandbreite von Bildtypen ins Spiel bringen. Das kennt jeder, dass ein Blick von Oben und ein Blick von Unten völlig unterschiedliche Anmutungen schafft, dass durch die Wahl von Farbe oder Schwarz-Weiß, dass selbst durch unterschiedliche Körnungen und andere materielle Aspekte des Bildes sehr unterschiedliche affektive und subjektive Anmutungen oder Atmosphären entstehen. Dabei ist eindeutig, dass das die selbe Szene ist, so dass alles, was dann die wechselnden Atmosphären des Fotos sind, aus den situativen Bedingungen quasi von selbst entspringt. Und das ist ja eine der zentralen Einsichten der konzeptuellen Fotografie – schon am Anfang etwa bei Baldessari – wie sehr Fotografie ihren Gegenstand überhaupt erst erzeugt.
BP: Genau. Dies betrifft ja diese uns bekannte Loslösung der Fotografie von der Wirklichkeit. In meiner Arbeit wird diese besonders deutlich dadurch, dass ich eben mehrere Interpretationen einer Situation im selben Moment herstelle und diese dann in der Installation im Raum aufeinander beziehe. Durch dieses Aufeinander-Beziehen können die Interpretationen dann als bloßes Ergebnis der Absichten, Vorlieben, Fähigkeiten der Fotografen gelesen werden. Dadurch fällt eigentlich das, was passiert ist oder das, was fotografiert wurde, die Wirklichkeit eben, völlig weg. Manchmal stelle ich mir das so vor, als würden meine Bilder wie eine Fassade da stehen und die Konstruktion dahinter ist weggefallen. Die Wirklichkeit ist weggefallen, die Bilder stehen als Fassade noch da. Wobei das wieder eine Sache ist, die auf jede Fotografie zutrifft, aber ich würde sagen, meine Arbeit macht deutlich, dass das passiert.
JM: Das Stichwort mit der Fassade kann man ja nutzen, da Sie seit einiger Zeit ganz explizit Fotohintergründe benutzen. Diese Fotohintergründe haben Sie als Erweiterung des Verfahrens eingesetzt, Modelle, Kleidung, Orte, vielfältig zu verwenden, das heißt auch immer wieder neu zu kombinieren; also das Spiel zu spielen, zu sehen, was sich aus der Kombination jeweils an Wirkungen, z.B. an Affektwirkungen oder atmosphärischen Wirkungen, ergibt. So zeigen Sie ganz nüchtern, wie das, was im Foto eine starke affektive Wirkung ist, ein Ergebnis relativ simpler Prozesse ist: Sowohl technischer Prozesse, denn dort spielen gerade Fragen wie Licht, Gegenlicht, Beleuchtung, aber auch Fragen wie Korn, Schärfe, Unschärfe entscheidende Rollen, als auch die Frage danach, wie die Sujets gedeutet werden, wie Situationen, gerade wenn sie nicht eindeutig sind, in narrative oder dramatische Kontexte übersetzt werden. Das zu zeigen, wie das, was im Foto offensichtlich so ungeheuer wirksam ist – ungeheuer stark, ausdrucksstark, mitteilungsstark, dramatisch stark –, dass das tatsächlich nur ein Ergebnis verschiedenster, gut kontrollierbarer, gut steuerbarer Prozesse ist – das ist eine besonders erschütternde Einsicht. Sie wählen dafür Fotos, die `greifen´, deren Wirkungsmechanismen so funktionieren, dass der Betrachter von ihnen affiziert wird: So dass sie rätselhaft werden, dass sie ausdruckshaft werden.
BP: Ja, das ist auch das, was mir richtig Freude macht an der Arbeit, und zwar die Fallen zu bauen für den Betrachter. Ich möchte auf jeden Fall, auch wenn ich mich für fotografische Fehler interessiere und für Schnappschüsse und alles Mögliche – ich möchte auf jeden Fall starke Bilder machen, auf die sich der Betrachter einlassen will, denn es ist ja ein gutes Stück Arbeit, das der Betrachter dann vor sich hat, wenn er sich darauf einlässt.
JM: Das heißt, dass Sie über die Verfahrensweisen von ideologiekritischer oder medienkritischer Kunst hinaus gehen. Denn der kritische Umgang mit Fotos geht häufig nicht davon aus, ob sie wirken oder wie sie wirken, sondern konstatiert nur ihre soziologische oder gesellschaftliche Existenz und geht nur distanziert, analytisch, mit ihnen um.
BP: Ich würde sagen, meine Untersuchung, ob und wie Bilder wirken, bringt genau deren gesellschaftliche Existenz ins Wanken. Sobald wir genauer über diese Wirkung nachdenken, entsteht Skepsis gegenüber den Bildern selbst und deren Wirkung. Die Bilder hätten es dann nicht mehr so leicht mit uns. Die Untersuchung der Wirkung, also unserer Beeinflussung durch die Bilder ist genauso interessant wie zu untersuchen wie diese Wirkung überhaupt hervorgebracht wird, ausgehend von den Intentionen des Bildermachers, des Fotografen. An diese Intentionen knüpfen sich Ideen wie Bildkomposition, Bildausschnitt, Bildperspektive, Wahl von Schwarz-Weiß oder Farbfilm usw. Diese bildnerischen Ideen sind Möglichkeiten der Wirklichkeitsmanipulation und beschäftigen mich mehr als die anderen Möglichkeiten, wie die technische Manipulation durch die Kamera, also z. B. Weichzeichner oder Verzerrungen, Über- oder Unterbelichtung, und am wenigsten interessiert mich die Computermanipulation – die verwende ich überhaupt nicht. Die würde ja auch in meiner Arbeit keinen Sinn machen, würde ihr widersprechen, sie ja sogar zerstören. Eine Schärfe- und Unschärfeproblematik, sprich ein Vordergrund-Hintergrund-Thema gibt es jedoch in meiner Arbeit, weil das eine Sache ist, die sich auf unsere Wahrnehmung zurückführen lässt. Da ist der fotografische Apparat genau wie unsere Wahrnehmung. Wir können nicht unendlich in die Weite scharf sehen, wir fokussieren entweder Vorder- oder Hintergrund. Und die Fotografie zeigt ja, was der Fotograf in dem Augenblick gesehen hat oder wahrgenommen hat. Also geht es hier um die Probleme der Wahrnehmung, wie wir unsere Welt wahrnehmen, wie wir wahrnehmen können, welche Fähigkeiten wir haben, wahrzunehmen und wie subjektiv wir sie eigentlich wahrnehmen und trotzdem immer denken: Es war genau so, wie wir es gesehen haben.
JM: Sie haben demzufolge durchaus nicht vor, an simulationstheoretische Behauptungen anzuknüpfen, die etwa lauten würde: „Wir leben eh nur noch in einer Welt von Bildern, es gibt keinen Ausweg aus den Bildern, es gibt keine Möglichkeit…“
BP: Im Gegenteil, eigentlich ist meine Arbeit eine Herausforderung an unsere Beobachtungsfähigkeit der Welt, an unsere Aufmerksamkeit in der Welt und eigentlich sucht meine Arbeit fieberhaft nach dem Original, nach der Vorlage all dieser Bilder. Natürlich führt meine Arbeit einen skeptischen Blick auf unsere Welt vor, auf die von uns gebaute Bilderwelt, auf ihre scheinbare und so verführerische Eindeutigkeit, aber immer mit dem Ziel vor Augen, zwischen diesen Bilder hindurchzublicken auf ihre Ursprünge.