So könnte es sein

Über die Exposures von Barbara Probst

Die fotografischen Bildreihen der Exposures von Barbara Probst umfassen Straßenszenen, Close-Ups, Stillleben, Akt-, Studio-, Landschafts- und Modeaufnahmen. Alle Werke verbindet ihr spezifischer Entstehungsprozess: Die mehrteiligen Reihen und Tableaus, die aus bis zu vierzehn Einzelbildern bestehen, erfassen einen Augenblick simultan aus verschiedenen Kamerapositionen, die durch einen über Funkwellen gesteuerten Auslösemechanismus miteinander verbunden sind. Dadurch ergeben sich multiperspektivische Sichtweisen auf ein Geschehen, das durch die Gleichzeitigkeit der Bildentstehung verwoben ist. Die aktuell rund 160 Arbeiten umfassende Werkreihe konterkariert damit grundlegende Wahrnehmungsparameter: Eine Situation kann der Mensch lediglich von einem Standpunkt aus erfassen, da er niemals an mehreren Orten zugleich sein kann. Verschiedene Blickwinkel kann er hingegen nur in unterschiedlichen Augenblicken einnehmen, da das Nacheinander eines zeitlichen Ablaufs nie aufgehoben werden kann.

„Wir sehen nicht, was wir sehen, sondern was wir sind“1, schreibt Fernando Pessoa in seinem Buch
 der Unruhe. Tatsächlich sieht der Mensch die Welt nicht so, wie sie ist. Er sieht lediglich seine Vorstellung von der Welt. Das vom Menschen erdachte Modell der Wirklichkeit ist ein Konstrukt und per se relativ. Seine individuelle Wahrnehmung unterscheidet sich von der Wahrnehmung jeder anderen Person. Seine individuelle Wahrheit ist nicht die Wahrheit des anderen. Jedoch ist gerade die Fotografie mit der Vorstellung assoziiert, sie würde ein Geschehen oder Objekt authentisch und wirklichkeitsgetreu wiedergeben. Fotografische Dokumente besitzen eine außerordentliche Glaubwürdigkeit, und wir unterstellen ihnen das unantastbare Vermögen, Zeugnis ablegen zu können.2 Fotografen wie August Sander waren überzeugt, „die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen oder können.“ 3

So bedenken wir bei der Betrachtung einer Fotografie selten, dass es eine dezidierte Entscheidung des Fotografen4 ist, wie die Wirklichkeit im Moment der Aufnahme in ein fotografisches Abbild der Welt übertragen wird.5 Wir bedenken nicht, dass die festgehaltene Situation so nicht gewesen ist, sondern lediglich so gesehen werden kann. Durch die Multiperspektivität der Werke von Barbara Probst wird jedoch offenkundig, dass die Fotografie nie die Realität abbildet, sondern lediglich eine von unendlich vielen Sichtweisen auf diese. Die Fotografie steht, so beschreibt es die Künstlerin, für „die Möglichkeit einer Darstellung dieses Augenblicks und nicht für die Darstellung dieses Augenblicks.“6 Ihre Exposures zeigen: Auch im exakt gleichen Moment kann die Welt anders aussehen und eine Situation eine andere Deutung erfahren, wenn wir als Betrachter nur unseren Standort leicht verändern. Diese wahrnehmungspsychologische Erkenntnis provoziert eine generelle Hinterfragung unseres Realitätsbegriffs sowie unserer persönlichen Perzeption. Denn wie können wir unsere Auffassung verallgemeinern, wenn derselbe Augenblick so unterschiedlich wahrgenommen werden kann?

Die Kunsthalle Nürnberg präsentiert eine eindrucksvolle Auswahl der Exposures, beginnend mit der ersten Arbeit der Werkreihe Exposure #1: N.Y.C., 545 8th Avenue, 01.07.00, 10:37 p.m., die 2000 auf einem New Yorker Hochhausdach entstanden ist. Das zwölfteilige Bildtableau zeigt die Fotografin selbst aus unterschiedlichen Perspektiven bei einem nächtlichen Sprung auf dem Dach. Die technische Umsetzung sowie die daraus resultierenden fotografischen Lesarten rücken in den Fokus; die Frage nach dem eigentlichen Bildmotiv scheint hingegen sekundär. Barbara Probst kombiniert bei diesem ersten Tableau Farb- und Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ein Mittel, das sie in der Folge immer wieder nutzt, um die Heterogenität der Einzelbilder zu betonen. Denn ein Schwarz-Weiß-Bild suggeriert eine zeitliche Verschiebung und wirkt, selbst wenn der Betrachter von der Gleichzeitigkeit der Bildentstehung Kenntnis besitzt, im Verhältnis zu einer Farbaufnahme seltsam antiquiert.

Diese Vorgehensweise zeigt sich auch in aktuellen Exposures aus dem Jahr 2020, die in der Kunsthalle Nürnberg beispielhaft vertreten sind und einen Bogen über 20 Jahre spannen: Die Triptychen Exposure #150: N.Y.C., Prince & Mercer Streets, 04.08.20, 2:19 p.m. bis Exposure #158: N.Y.C., Grand & Mercer Streets, 06.10.20, 11:46 a.m. wurden während des durch die Corona-Pandemie bedingten Shutdowns in New York aufgenommen. Die Straßen und Plätze der Metropole sind verwaist, das hyperaktive Treiben einer beschleunigten Wirtschaftswelt ist zum Erliegen gekommen. Die Ladenlokale von zum Beispiel Zadig & Voltaire oder Alexander Wang sind mit Tischlerplatten gegen Vandalismus geschützt. Temporär wird hier nichts mehr beworben, und die Gebäude ruhen bis sie aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen dürfen. Die Bildreihen zeigen stets dieselbe junge Frau, die auf den verlassenen Straßenzügen der Metropole steht: Straßen, die wir nur vollgestopft mit unzähligen Menschen, Autos, Bussen und Taxis kennen. Unweigerlich imaginieren wir auch eine akustische Komponente, welche die beschleunigte Wirklichkeit der zivilisatorischen Moderne repräsentiert. Wir assoziieren das enervierende Hupen unzähliger Autos, die lauten Sirenen der Rettungs- und Feuerwehrwagen, dröhnende Presslufthämmer und Baumaschinen, ein babylonisches Stimmengewirr und all die anderen Geräusche, die in ihrer Kakophonie den Lärm der Großstadt ergeben.

In seiner Kleinen Geschichte der Photographie schreibt Walter Benjamin 1931, die Fotografie könne über das Unbewusste des Sehens unterrichten, ebenso wie die Psychoanalyse über das Unbewusste der Triebe.7 Vielleicht ist es dieser Umstand, der dazu führt, dass unspezifische
Orte vielfach erst in der und durch die Fotografie sichtbar werden. Im Alltag würden wir an diesen Straßenzügen vorübergehen und sie lediglich unbewusst wahrnehmen. In der Fotografie werden diese Orte jedoch plötzlich offenbar. Sie werden zu einem Ereignis mit eigener Poetik, da sich unsere Wahrnehmung verschiebt und sich die Hierarchie der Dinge verändert. In den aktuellen Aufnahmen von Barbara Probst wird diese Beobachtung durch den ungewohnten Stillstand zusätzlich befördert. Architektonische und städtebauliche Details werden sichtbar, die sich im Alltag unserer Wahrnehmung wohl entzogen hätten: die Ästhetik eines mit lindgrüner Farbe definierten Radwegs; die abstrakte Zeichnung der Fahrbahnmarkierungen; Farbflächen, die Rad- oder Busspuren kennzeichnen und eine eigene absichtslose Ästhetik entwickeln; die Anordnung von Pflastersteinen und die Struktur von Fassadengestaltungen: all die zufälligen, grafischen wie skulpturalen Grundformen, die sich im städtischen Raum vielfach finden lassen.

In ihrer Komposition erscheinen diese Straßenfotografien wie Stillleben, die ausgewählte und symbolhafte Objekte wie auf einer Bühne kunstvoll inszenieren.8 Jedes Detail des Arrangements, auch das scheinbar Nebensächliche, erhält in einem Stillleben einen neuen Stellenwert. In den aktuellen Triptychen gehen die städtische Architektur, das Mobiliar der Straße sowie das Modell eine komplexe Verbindung ein, und ihr Zusammenwirken scheint das erstarrte, stille Leben paradigmatisch zu repräsentieren. Denn selbst die junge Frau, die auf jeder der dreiteiligen Arbeiten nicht nur aus drei verschiedenen Kamerapositionen, sondern auch aus drei variierenden Distanzen auf- genommen wurde, wirkt gänzlich statisch: Sie posiert nicht, ihre Körperhaltung wirkt unspezifisch und der Blick ist unbestimmt in die Ferne gerichtet. Sie steht auf der Straßenkreuzung wie eine Vase auf dem Tisch. In seinem Roman Die Radiergummis schreibt der französische Schriftsteller und Filmemacher Alain Robbe-Grillet 1953: „Aber noch ist es zu früh; die Tür zur Straße ist eben aufgeriegelt, die einzige Figur auf der Bühne ist noch nicht zu einer Persönlichkeit geworden.“9 In den frühen Morgenstunden erscheinen Menschen bisweilen wie Requisiten, und der Autor weist ihnen die gleiche Rolle wie zwölf Stühlen zu, die „langsam von den Kunstmarmortischen heruntersteigen, auf denen sie die Nacht zugebracht haben.“10

Vielleicht haben die frühen Morgenstunden und ein verordneter Stillstand Gemeinsamkeiten: Es sind Augenblicke, die sich der beschleunigten Wirklichkeit der Moderne entziehen und Raum für eine abweichende und subjektivierte Zeitlichkeit geben. Die Zeit erscheint seltsam gedehnt und befördert eine besondere Art von Wachheit, in der das vermeintlich Unbedeutende im Alltäglichen unerwartet sichtbar wird. Barbara Probst schreibt über diese Bildreihen: „Mein Interesse bei diesen Arbeiten war mehr denn je ein psychologisches. Ich wollte die plötzliche und unerwartete Verlorenheit des Menschen, das abrupte Anhalten der sonst üblichen Energie und Bewegung und diese irritierende Stille wie nach einem Unfall in Bilder übersetzen. Die Melancholie und Schönheit, die auffallend morbide wirkte und alles in Frage stellte, für das diese energiegeladene, am Erfolg orientierte Stadt sonst stand, hat mich anhaltend beeindruckt. Ich war in der gesamten Zeit des Shutdowns in die Arbeit an den Straßen in meiner Umgebung versunken, was für mich auch eine Art Heil-Bleiben im Desaster ermöglicht hat.“11

Die Exposures thematisieren traditionelle fotografische Genres wie das Porträt, das Stillleben, den Akt, die Straßen- und Modefotografie. Es ist augenfällig, dass sich die Arbeiten einer simplen genrespezifischen Einordnung entziehen. Oft sind sie zugleich Straßenfotografie und Stillleben, Stillleben und Akt, Mode- und Straßenfotografie, Modefotografie und Close-Up, Close-Up und Stillleben. Klug thematisieren die Bildreihen und -tableaus diese Sujets und verbinden sie mit neuen und individuellen Fragestellungen. Zentral ist dabei die Reflexion darüber, wie eine Emanzipation vom Wissen über die spezifische Bildtradition gelingen kann. Und wie ist ein unverbrauchter Blick möglich, der die bestehende Tradition und Ikonografie aufbricht?

Die Close-Ups zeigen beispielsweise den oder die Protagonisten meist zweifach, aus leicht unter- schiedlichen, jedoch zeitgleich festgehaltenen Perspektiven. Barbara Probst vermeidet den Begriff des Porträts: Die Close-Ups sind keine individuellen Bildnisse, sondern stellen die Interaktion der abgebildeten Person/en mit dem Betrachter und dessen Blickpunkt in den inhaltlichen Fokus. Jedes Einzelbild zeigt meist zwei Protagonisten, von denen jeweils einer direkt in eine der Kameras schaut und damit in Blickkontakt mit dem Betrachter tritt. In dessen physischem Standort bündeln sich die verschiedenen Kamerastandpunkte. Damit zeigen ihm die Close-Ups etwas, das er in seinem Alltag niemals wahrnehmen könnte, da er für diesen wechselseitigen Blick im selben Moment an verschiedenen Orten zugleich sein müsste. Das bringt den Betrachter in ein grundlegendes Dilemma: Ist es ihm überhaupt möglich, sich mit verschiedenen Perspektiven gleichzeitig zu identifizieren oder wird er zwischen den Optionen gedanklich permanent hin und her springen?

Die 2018 entstandenen Stillleben Exposure #138 bis Exposure #143 zeigen rätselhafte und bis
in das kleinste Detail komponierte Inszenierungen. Hier ist der Zufall, anders als bei früheren Straßenszenen, gänzlich ausgeschlossen. Die Zeit scheint, dem Genre des Stilllebens entsprechend, arretiert. Zerbrochenes Porzellan, verschüttete Milch, ein auf dem Boden liegender oder am Tisch zusammengesunkener Körper, pars pro toto durch einen Arm oder einen Fuß repräsentiert. Die dramaturgische Inszenierung dieser vage an Tatorte erinnernden Stillleben unterstützt den Eindruck des Filmischen. Vielfach erscheinen die Einzelbilder der Reihen und Tableaus von Barbara Probst wie Standbilder eines Films, der sich im Kopf des Betrachters unweigerlich in Gang setzt und mögliche Antworten auf die Frage nach der Ursache des Szenarios sucht.

Im Film erscheint es ganz selbstverständlich, dass verschiedene Standpunkte, Blickwinkel und Ausschnitte innerhalb einer Szene durchgespielt werden. In einer Filmszene können sich Raum, Kontext und Psychologie durch unterschiedliche Einstellungen verschieben. Der Regisseur hat, da er eine Chronologie an Bildern zeigt und nicht wie der Fotograf lediglich einen Augenblick aus einem Kontinuum, stärker die Möglichkeit, die Interpretation des Zuschauers zu beeinflussen.
Die Deutung des Geschehens überlässt er in der Regel nicht dem Betrachter, sondern leitet ihn in eine interpretatorische Richtung. Auch Barbara Probst zeigt in ihren Bildreihen und -tableaus diese unterschiedlichen Standpunkte, Blickwinkel und Ausschnitte. Die Fokussierung von Details einer- seits und die Distanz fordernde Totale andererseits sind ebenfalls genuin filmische Mittel. Jedoch repräsentieren ihre Reihen lediglich einen Sekundenbruchteil, einen Augenblick, einen Wimpernschlag innerhalb eines Zeitkontinuums, was ein expliziter Unterschied zum Film ist. Da es keine zeitliche Abfolge der Motive, kein Davor und kein Danach gibt, falten sich ihre Bilder in der Imagination des Betrachters räumlich auf. Die zweidimensionalen Fotografien werden zu einem dreidimensionalen Gesamtbild eines Augenblicks. Jedes Einzelbild eröffnet einen neuen Einblick in die fotografisch festgehaltene Szene. Unweigerlich konstruiert der Betrachter eine räumliche Vorstellung des Augen- blicks und füllt die Räume zwischen den Einzelbildern, über deren Beschaffenheit die Fotografien ihm keine Auskunft geben, mit seiner Imagination. Dieser Prozess setzt eine gedankliche Komplizenschaft voraus. Zugleich muss der Betrachter sich auch körperlich in Bewegung setzen: Da die Bildreihen ihm oft mehr zeigen als er von einem Standort aus wahrnehmen kann, gelingt eine Ausdehnung des Raums und eine Erweiterung des Blickfelds teils hin zum Panorama. Bisweilen muss der Rezipient die mehrteiligen Werkreihen abschreiten, um seine Deutung für das von der Kamera festgehaltene Geschehen zu finden. Seine physische Präsenz und Bewegung im Raum werden zu einem essenziellen Bestandteil der Arbeit und komplettieren diese. Die Reihenfolge der Bilder im Raum und ihre Größe schaffen für ihn eine Choreografie des Schauens und Bewegens.
„Im Grunde wird meine Arbeit erst durch den Betrachter komplett, sie kann nicht ohne den Betrachter sein. Ein Bild von Mondrian ist in sich sozusagen vollständig, es braucht den Betrachter nicht, aber meine Arbeit braucht den Betrachter, um die Lücken zu schließen, die in der Arbeit eigentlich hergestellt werden.“12

Barbara Probst ist fasziniert von Schriftstellern und Filmemachern der 1960er-Jahre, die, wie Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet oder Jean-Luc Godard, mit der klassischen Erzählform brachen: „Ihre Art, Geschichten zu erzählen, bestand darin, den Erwartungen des Lesers oder Zuschauers 
zu widersprechen, indem sie Risse und Lücken in der Geschichte verursachten oder die Perspektive unerwartet änderten. Sie behandelten die Erzählung ähnlich wie ein kubistischer Maler den Raum behandelte.“13 Jean-Luc Godard brach 1960 mit dem „Continuity Editing“ des klassischen Hollywood- kinos, indem er den „Jump Cut“ einführte und damit die Rolle des Zuschauers maßgeblich veränderte. Dieser muss die Erzählung gedanklich vervollständigen, um seine individuelle Erklärung für das zu finden, was durch den „Jump Cut“ übersprungen worden war. Auch die Exposures weisen diese Risse und Lücken auf, die eine gedankliche Komplettierung durch den Betrachter einfordern. Aufgrund der fehlenden Chronologie folgen die Bildreihen keiner klaren Narration und auch eine eindimensionale, sich aufdrängende Deutung wird explizit vermieden. So verzichtet Barbara Probst gänzlich auf emotionale Symbolik oder Pathosformeln, die der Betrachter als Teil des kulturellen Bildgedächtnisses unmittelbar erkennen und verorten könnte. Mit der ambivalenten Gestik und Mimik der Protagonisten und den vieldeutigen Interaktionen und Requisiten minimiert die Künstlerin den narrativen Charakter jeder Aufnahme und sucht für den Betrachter nach einer interpretatorisch offenen und mehrdeutigen Darstellung.

Für das Mailänder Modeunternehmen Marni fotografierte Barbara Probst im November 2016
die Kampagne zur Frühjahr-/Sommerkollektion 2017. Neben den Aufnahmen, die das Label zur Bewerbung ihrer Produkte nutzte, entstanden die Triptychen Exposure #120, #121 und #122. Diese Werke zeigen eine Konstellation mit vier Fotomodellen, die sich gegenseitig fotografieren. Die Kameras, die sie vor ihre Gesichter halten, verbergen ihre individuellen Gesichtszüge. Die schwarzen Kabel, welche die Apparate mit den Computern hinter dem Set verbinden, bilden eine verschlungene Struktur auf dem weißen Studioboden. Jede Einzelaufnahme repräsentiert die individuelle Perspektive einer der Frauen, denen auch die Entscheidung über Kamerastandpunkt, Motiv, Framing und Ausschnitt übertragen wurde. Barbara Probst definierte lediglich den Moment des Bildauslösens, der auch in diesem Fall über einen zentral gesteuerten Mechanismus simultan vollzogen wurde. Die Ästhetik der Aufnahmen erinnert vage an den britischen Spielfilm Blow-Up, der 1966 bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde. Der Regisseur Michelangelo Antonioni zeigt in einer der Anfangsszenen seines Films den Modefotografen Thomas (David Hemmings), der das Model Veruschka von Lehndorff bei einem Shooting mit der Kamera umkreist. Während in dem Spielfilm die (männliche) Autorenschaft nicht hinterfragt wird und die auftretenden Models ungeniert als „Puppen“, „Miezen“ und „Täubchen“ bezeichnet werden, überträgt Barbara Probst zentrale Fragestellungen der Bildfindung auf die Protagonistinnen und konterkariert damit die tradierte Vorstellung der Rollenverteilung, Autorenschaft und Kontrolle. Zu Blow-Up besteht zudem eine grundlegende Parallele: Auch der Film verhandelt die für die Exposures zentrale Frage, in welchem Verhältnis Fotografie und Wirklichkeit stehen. So ist der Fotograf Thomas überzeugt, er habe unbewusst mit seiner Kamera einen Mord dokumentiert. Doch in der Vergrößerung, im „Blow up“, löst sich das Bild der Leiche in der Körnung der Fotografie gleichsam auf.

Die fünf Diptychen Exposure #124: Brooklyn, Industria Studios, 39 South 5th St, 04.13.17, 10:39 a.m. bis Exposure #128: Brooklyn, Industria Studios, 39 South 5th St, 04.13.17, 6:45 p.m. entstanden im Auftrag der Vogue Italia und wurden 2017 in dem Modemagazin veröffentlicht. Für das Editorial, ein Make-Up-Special, fotografierte Barbara Probst fünf Close-Ups, die dieselben eineiigen Zwillinge zeigen. Auf zwei der Diptychen – Exposure #125 und #126 – wurden die Gesichter der Geschwister durch die Make-Up-Künstlerin in kleine Gemälde verwandelt, die wie ein Bild im Bild erscheinen und auf die Barbara Probst durch die Wahl der Requisiten und der Hintergrundfarbe reagierte. Die übrigen drei Close-Ups zeigen die Schwestern gemeinsam, zwei Kameras gegenübersitzend. Im Augenblick des simultanen Bildauslösens schaut jeder Zwilling in eine der beiden Kameras.

So zeigt jedes Einzelbild eine Protagonistin, die in direktem Blickkontakt mit dem Betrachter steht. Dessen Irritation, die daraus resultiert, die beiden Kamerastandpunkte in seinem Standort vereinen zu müssen, wird bei diesen Close-Ups durch die frappierende Ähnlichkeit der Zwillinge noch potenziert. Auch dokumentiert die Werkgruppe erneut die genreübergreifende Bildkonzeption: Die Schwestern sitzen an einem Tisch, auf dem sich zahlreiche Objekte – Lebensmittel und Getränke, Karaffen, Krüge und Gläser sowie verwelkende Blumen – zu komplexen Stillleben formieren. Exposure #125 integriert gar eine Zitrone, die mit ihrer grobporigen Oberfläche in der Geschichte des Stilllebens ein vielfach wiederkehrendes Motiv war. Sie bot einem Maler auf formaler Ebene die Möglichkeit, seine Virtuosität zu beweisen und forderte zum direkten Vergleich mit den Konkurrenten auf. Trotz dieser Reminiszenzen sind die Arrangements explizit in der Gegenwart verortet: Gegenstände wie PET-Flaschen mit intensiv farbigen Flüssigkeiten, ein Einmachglas mit Kirschen und eine Rolle mit rotem Klebeband finden sich hier ebenso wie Lippenstifte, Parfumflakons und Make-Up-Fläschchen, die auf den Kontext der Bildentstehung verweisen. Die in die Stillleben integrierten Kosmetikprodukte geben jedoch keine Details über beispielsweise den Hersteller preis. Die Artikel erscheinen ab- strahiert und universell und lassen an den Pop-Art-Künstler James Rosenquist denken, der auf seinen Bildpanoramen Lippenstifte und andere Konsumgüter ikonisch inszenierte.

Das britische Architektur- und Modemagazin Wallpaper* beauftragte die Fotografin 2018 mit einem Editorial, das im Verlauf eines Tages auf einer Straßenkreuzung im New Yorker Stadtteil SoHo entstand. Die Diptychen Exposure #137.1 bis #137.6 zeigen die Models aus zwei Distanzen, aufgenommen mit einer gleichbleibenden und einer zweiten wechselnden Kamera- einstellung. Bekleidet sind alle Protagonisten mit auffälligen, farbintensiven Kleidungsstücken. Die wiederkehrenden Animal-Prints wecken Assoziationen zum Mythos des Großstadt- dschungels. Die Bildreihe, die sich im Magazin über sechs Doppelseiten erstreckte, gibt das Ergebnis dieses Shootings chronologisch wieder. Das Umblättern der Seiten befördert die Wahrnehmung des Zeitverlaufs, der sich in den Fotografien auch durch die wandernden Schatten dokumentiert. Das Editorial folgt somit einem im Vorfeld klar definierten Konzept, welches im Festhalten am Standpunkt einer der Kameras und im fast systematischen Auslösen über den Tag hinweg besteht. Damit spielt Barbara Probst auf die Konzeptkunst der 1960er- und 1970er-Jahre und auf Fotografien von zum Beispiel Douglas Huebler an, der häufig in den Straßenschluchten von Manhattan fotografierte.14 In diesen Aufnahmen, aber auch bei allen anderen Arbeiten, die im Fashionkontext entstehen, zeigt sich der Versuch, die Hierarchie der Dinge zu verschieben. Mode und Kosmetik, eigentlich Anlass der Aufnahmen, werden zu einem Gestaltungselement neben vielen anderen. Sie sind Mittel zum Zweck. Der Fokus liegt jedoch wie bei allen anderen Bildreihen und -tableaus der Exposures auf der zentralen Frage nach der Wahrnehmung des Betrachters, der zur Analyse und kritischen Hinterfragung wie Selbstbeobachtung herausgefordert wird.

Die Auseinandersetzung mit der Aktfotografie begann für Barbara Probst nach den Modeaufnahmen, in denen naturgemäß Kleidung sowie Haar und Make-Up der Models große Relevanz besaßen. Diese Komponenten sollten in den Aktdarstellungen gänzlich wegfallen, um mit dem Körper im Sinne einer mit fotografischen Mitteln entstandenen Skulptur zu arbeiten. Das erste Triptychon Exposure #129: Munich, Nederlingerstrasse 68, 08.11.17, 6:02 p.m. zeigt, wie auch die folgenden Aktdarstellungen, lediglich Fragmente eines Frauenkörpers: das angewinkelte, linke Bein, auf das rechte Knie gelegt; den linken Ellenbogen, auf das angewinkelte Bein gestützt; den rechten Unterarm und ein Teil der Hand, die das aufgelegte Bein am Knöchel hält. Die Extremitäten bilden Diagonalen, Senkrechten und Parallelen, sodass der Bildaufbau nahezu architektonisch wirkt. Durch die starke Ausschnitthaftigkeit obliegt es erneut der Vorstellungskraft des Betrachters die Fragmente gedanklich zu einem volumenhaften Körper zusammenzufügen.

Betrachten wir ein menschliches Antlitz, so wird dieses für uns unweigerlich zu einem Individuum, einem fühlenden Gegenüber, einer Biografie. Keine der Aktdarstellungen von Barbara Probst zeigt das Gesicht des Models, da die Intimität, die sich daraus ergeben würde, nicht beabsichtigt ist.
So scheinen die Frauen auf sich selbst bezogen. Sie interagieren nicht mit einem potenziellen, außer- halb des Bildes stehenden Betrachter, sondern mit den Kameras, die als zusätzliche Protagonisten die Bildkomposition bestimmen: Auf allen Aufnahmen sind die auf Stativen stehenden Kameras sicht- bar. Sie blicken auf den unbekleideten Körper, der pars pro toto für alle Körper steht, und werden zum Komplizen, zum Stellvertreter des Betrachters im Bild. Durch die Sichtbarkeit der Kameras wird diesem das Anschauen selbst vorgeführt. Denn der Blick einer der Kameras ist unweigerlich sein Blick und zugleich sieht er die übrigen Kameras und damit auch die Blicke der anderen.

Die räumliche Konstellation erinnert an ein akademisch geprägtes zeichnerisches oder bildhauerisches Aktstudium und das im Zentrum stehende, von Kunststudenten umgebene Modell. Von Zeit zu Zeit wird das Aktmodell, welches auf einer beweglichen Scheibe steht, gedreht, sodass der Körper aus allen Perspektiven sichtbar wird. Die zeitlich versetzten Blickwinkel werden durch die Vorstellungskraft der Betrachtenden nach und nach zusammengefügt. Diese Parallele scheint bei allen Exposures von Barbara Probst zu bestehen: Stets umstellen ihre bis zu vierzehn Kameras das Geschehen wie Kunststudenten das Modell. Diese Herangehensweise ist geprägt durch das Studium der Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in München, das die Künstlerin, neben einem Studienjahr in der Fotoklasse von Bernd Becher an der Kunstakademie Düsseldorf, absolvierte. Die Bildreihen und -tableaus der Exposures zeigen, dass sich die Fotografie für Barbara Probst aus der Bildhauerei und aus einem räumlichen Denken heraus entwickelt hat. Die Arbeit mit dem Körper im Kontext der Aktfotografie ist für sie eine natürliche und logische Rückkehr zum Ursprung ihres künstlerischen Werdegangs.15

Ein Teil der Faszination, die wir der Fotografie entgegenbringen, besteht wohl darin, dass diese in der Lage ist, die Gegenwart, diesen schillernden Moment zwischen Vergangenem und Künftigem, zu fixieren. Dem Menschen fällt dies schwer, denn anders als die Vergangenheit und die Zukunft, an die er sich erinnern bzw. die er herbeisehnen kann, ist die Gegenwart eine flüchtige Chimäre. Wir bewohnen einen schmalen Streifen an Gegenwärtigkeit, nach beiden Seiten umgeben von zwei Arten des Nicht- Seins: dem Nicht-Mehr der Vergangenheit und dem Noch-Nicht der Zukunft. Jean-Paul Sartre schreibt: „Die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft ist noch nicht, und von der instantanen Gegenwart weiß jeder, dass sie überhaupt nicht ist, sie ist nur die Grenze einer unendlichen Teilung wie der Punkt ohne Ausdehnung.“16 So scheint der Umgang mit der Gegenwart zu den zentralen Dilemmata zu gehören, die der Mensch mit dem Phänomen Zeit hat: Zeit ist für ihn primär mit dem Jetzt verknüpft, das Jetzt, in dem er lebt und erlebend existiert. Jedoch ist der gelebte Augenblick für ihn ein ewig weißer Fleck: Er steckt mittendrin im Jetzt und kann es nicht reflektieren, da es für die Reflexion Distanz bedarf. Zugleich, so beschreibt es auch Barbara Probst, ist das Jetzt das einzige, was wir „wirklich“ erleben.17 Das Jetzt ist in einer Weise authentisch, wie es Vergangenheit und Zukunft niemals sein können, da diese stets durch unsere Vorstellungen interpretiert werden: „Wir sehen nicht, was wir sehen, sondern was wir sind.“18 Auch empfinden wir die Gegenwart, diesen nicht teilbaren Moment, der kaum eine Ausdehnung besitzt, als bleibend: Solange wir leben, hört dieser Moment der Gegenwart nicht auf. Es gibt immer ein Jetzt. Die Fotografie ermöglicht, dieses Jetzt festzuhalten, es einzufrieren. Das Irreversible des Zeitflusses ist punktuell aufgehoben. Die Exposures von Barbara Probst zeigen uns jedoch, dass wir auch durch die Fotografie keine Gewissheit über die Faktizität des Augenblicks gewinnen können. Denn die Wirklichkeit ist nicht so oder so. Sie ist so und so.

 

1  Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe, Frankfurt am Main 2008, S. 426.

2  „Es herrscht so etwas wie eine grundsätzliche Überein- stimmung darüber, dass das fotografische Dokument die Welt getreu wiedergibt. Eine außerordentliche Glaub- würdigkeit wurde ihm zugesprochen, ein einzigartiges Gewicht der Wirklichkeit. Und diese der Fotografie unterstellte Wirklichkeitsnähe, dieses unantastbare Vermögen, Zeugnis ablegen zu können, beruht haupt- sächlich darauf, dass man sich des mechanischen Her- stellungsprozesses des fotografischen Bildes und der spezifischen Weise seiner Konstituierung und Existenz bewusst ist, beruht auf dem Wissen vom sogenannten Automatismus seiner technischen Genese.“, Philippe Dubois: Der fotografische Akt: Versuch über ein theore- tisches Dispositiv, Amsterdam, Dresden 1998, S. 29.

3  Gunther Sander (Hrsg.): August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts, München 1980, S. 10.

4  Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleich- zeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen verzichtet und das generische Maskulinum verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten jedoch gleicher- maßen für beide Geschlechter sowie alle anderen ge- schlechtlichen Identitäten.

5  „Denn vor und nach diesem Moment der natürlichen Einschrei- bung der Welt auf die lichtempfindliche Fläche gibt es zutiefst kulturelle, codierte, gänzlich von menschlichen Entscheidungen abhängige Gesten (davor: die Entscheidung für ein Sujet, für einen bestimmten Kameratypus, für den Film, die Belichtungs- dauer, den Blickwinkel usw. – all das, was vor dem entschei- denden Moment liegt und schließlich im Druck auf den Auslöser gipfelt; danach: alle diese Entscheidungen wiederholen sich beim Entwickeln und beim Abziehen; dann wird das Foto in die immer codierten und kulturellen Vertriebsmechanismen ein- gespeist – Presse, Kunst, Mode, Porno, Wissenschaft, Justiz, Familie …).“ Vgl. Anm. 2, S. 55.

6  Barbara Probst: (Mis)Understanding Photography. Werke und Manifeste, Kat. Museum Folkwang, Göttingen 2014, S. 30.

7  Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie“, 1931, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1977, S. 368–385, hier S. 375ff.

8  Vgl. hierzu auch den Essay von Brian Sholis in dieser Publikation, S. 90–99.

9  Alain Robbe-Grillet: Die Radiergummis, 1953, Frankfurt am Main 1989, S. 7.

10  Ebd., S. 7–8.

11 Barbara Probst in einer E-Mail an die Autorin am 30.08.2020.

12  Thomas Honickel: „Interview with Barbara Probst“, in: Photonews, April 2014, S. 14f.

13  Barbara Probst: https://www.le-bal.fr/en/2019/05/ barbara-probst, letzter Zugriff am 28.08.2020 (Übersetzung aus dem Englischen durch die Autorin).

14 Barbara Probst in einer E-Mail an die Autorin am 15.09.2020.

15 Auch andere Exponate der Ausstellung verweisen auf diesen bildhauerischen Kontext, so z. B. das Triptychon Exposure #73: Munich studio, 08.21.09, 2:23 p.m., welches drei Jungen im Teenageralter in Halbfigur zeigt. Die Bildkomposition und Körper- haltung referiert auf Auguste Rodins berühmte Plastik Die Bürger von Calais (1889), eine Gruppe von sechs Individualplastiken, bei der Rodin bewusst auf eine zentrale Figur wie eine Haupt- ansicht verzichtete. Hier wie dort zeigen sich subtile Anzeichen von Bewegung und die Räume zwischen den Charakteren erscheinen nahezu greifbar.

16  Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, 1943, Hamburg 1991, S. 216.

17  Barbara Probst in einer E-Mail an die Autorin am 15.04.2020.

18  Vgl. Anm. 1.

Harriet Zilch