Die „Exposures“ sind Reihen von Photos, die von derselben Situation, demselben Modell oder derselben Aktion gleichzeitig, in einem und demselben Augenblick, mit mehreren Kameras gemacht worden sind. Durch diese Verfahrensweise wird ein Grundprinzip nicht nur der Wahrnehmung, sondern der Existenz in der Welt überhaupt erschüttert oder zumindest stark irritiert: jedes Sehen geht von einem Punkt im Raum aus, dem Blickpunkt, es ist im Leib situiert und dadurch im Raum positioniert, und es bezieht das Gesehene und den Raum ganz selbstverständlich auf die Position des Blicks – die ganz wörtlich der Ort der Augen im Kopf ist. Jedes Sehen ist damit von vornherein perspektivisch, und, wie Nietzsche zeigte, ist deswegen auch jedes Verstehen und Deuten der Wirklichkeit perspektivisch, alles auf seinen Standpunkt hin ordnend und beziehend.
Barbara Probst jedoch verlässt diese auch für die Photographie selbstverständliche Voraussetzung, welche Photographie erst möglich gemacht hatte, indem jedes Bild sich perspektivisch auf seinen Blickpunkt hin ausrichtet und ordnet. Dadurch, dass Barbara Probst mit mehreren Kameras verschiedene gleichzeitige Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickpunkten und Blickwinkeln macht oder teilweise auch machen lässt, dadurch, dass sie die in einem bestimmten Augenblick für den Blick gegebene Ansicht einer Person, einer Situation oder einer Szene vervielfältigt, durch eine Vielheit gleichzeitiger Aufnahmen aufsprengt, wird das selbstverständliche Orientiert- und Situiertsein des Sehens von einem Schwindel ergriffen, in einen Abgrund der Ortlosigkeit hineingerissen. Durch diese Vielheit von gleichzeitigen Ansichten scheint sich ein völlig anderer Typ von Blick zu eröffnen, der äußerst schwer vorstellbar ist und der traditionellerweise als ein wesentliches Attribut Gottes verstanden wird: ein allgegenwärtiger Blick, ein Blick, der im gleichen Moment an verschiedenen Orten und damit potentiell überall ist. Wie ein Raum, eine Szene, eine Situation aussähe, die von einem allgegenwärtigen Blick gesehen wird, die also nicht mehr perspektivisch konstruiert und begriffen wäre, sondern eine unmittelbare Präsenz des Blicks überall zugleich kennen würde, übersteigt jede Vorstellungskraft.
Dass jedes Sehen, schon durch seine Einbettung in einen bestimmten Leib, nicht nur individuell ist, sondern auch für andere unzugänglich und verschlossen, also solipsistisch, wird normalerweise nicht zum Problem. Nur in spezifischen Affektzuständen wird spürbar, wie sehr Existenz immer auch ein totales Eingeschlossensein in den Leib und mit ihm in einen determinierten Ort und Zeitpunkt bedeutet. Eine der stärksten Erfahrungen der Einkerkerung des Sehens in einen exklusiven Ort im Raum und damit in die Geschlossenheit des eigenen, jeweils festgelegten Blicks tritt in der Eifersucht auf, dort, wo sie auf die ganze Existenz einer oder eines Anderen ausgreift und übergreift: wenn schon die Tatsache, dass die oder der Andere etwas anderes sieht als das leidende Subjekt, dass sie oder er unvermeidbarerweise eine andere Welt wahrnimmt und damit andere Objekte des Begehrens besitzt, äußerstes Leiden auslösen kann – ein Thema, das Proust mehrfach variiert hat, sowohl in der Liebe Swanns zu Odette als auch in seiner eigenen Liebe zu Gilberte. Und der von einer schon metaphysischen Eifersucht getriebene Versuch, den Blick der oder des Anderen wahrzunehmen, dessen eigenen Blick zu erblicken, dessen Sehen zu folgen und es auf diese Weise zu überwachen, findet in der Photographie zweifach eine Antwort; eine Antwort die von der technischen Apparatur selbst schon vorgegeben wird. Denn nur im Photo kann das Subjekt sich des Blicks einer oder eines Anderen versichern, kann das Subjekt einen Blick auf dessen Blick werfen: denn im Photo wird der Blick des Photographen in der Weise festgehalten, dass das, was er gesehen hat, aufbewahrt wird und von Anderen gesehen werden kann. Und umgekehrt ist jedes Photographiertwerden schon eine Entfremdung, ein spezifisches Ausgesetztwerden, auf das der Photographierte unvermeidbarerweise reagiert, indem er eine Pose einnimmt – und sei es die Pose der Abwehr. Der Titel dieser Photoreihen bekommt so einen nicht sofort hörbaren Nebenklang, der in dem englischen Wort „Exposure“ mitschwingt: denn „Exposure“ ist der nüchtern technische photographische Terminus für Aufnahme, doch bedeutet „Exposure“ wörtlich vor allem die spezifische, beklemmende Erfahrung des Ausgesetztseins, der Entblößung, der Bloßstellung, der Zurschaustellung.
Wenn Barbara Probst nun unterschiedlichste Photos derselben Situation, derselben Aktion oder Person aufnimmt und ausstellt, werden die Bedingungen des photographischen Sehens und Gesehenwerdens und die Herstellung des spezifischen photographischen Gegenstands, des Photos, sichtbar: sie stellt die Bloßstellung des Photographierten selbst bloß, sie setzt das photographische Dem- Blick-Aussetzen selbst wieder dem Blick aus. Die radikalste und reduzierteste Form solcher Exposure ist eine Situation, in der sich verschiedene Photographen nur noch gegenseitig beim Photographieren, gleichzeitig, photographieren – wie Barbara Probst das in der „Exposure #6a“ inszeniert hat.
Festgelegt sind in dieser Werkgruppe nur drei Grundbedingungen: dieselbe Szene wird von mehreren Kameras in ein und demselben Augenblick aufgenommen. In den Photos wird so eine gleichzeitige Vielheit von Blicken sichtbar, die nicht von einer Person gesehen werden können, die jedoch alle von der Künstlerin eingerichtet oder angeleitet werden. Jenseits dieser festliegenden Grundeinstellungen verändert Barbara Probst die Bedingungen der photographierten Situation oder Szene systematisch. Alle anderen Bedingungen der Aufnahmesituation werden variiert und erprobt, wobei sehr unterschiedliche Typen von Photographien mit sehr unterschiedlichem Realitätsgehalt entstehen. Barbara Probst variiert den Einsatz der Kameras, beispielsweise indem sie entweder von ihr selbst installierte Kameras gemeinsam auslöst, so dass alle Einstellungen von ihr stammen, oder indem sie andere Photographen nach ihren Anweisungen photographieren lässt. Manchmal arbeitet sie mit Modellen, manchmal photographiert sie von ihr ausgesuchte reale Situationen; die photographierten Situationen können sichtbar inszeniert sein, eine Art von Bühnenexistenz besitzen, oder vorgefundene und vorgegebene Orte sein. In manchen Photoreihen sind die anderen Kameras und mit ihnen die technische Apparatur der Aufnahmen sichtbar, in anderen bleiben sie verborgen. Manche Szenen sind offensichtlich artifiziell inszeniert, andere, flüchtige Ereignisse scheinen durch schnelle Schnappschüsse eingefangen worden zu sein. Die Unterschiede der gleichzeitigen Blicke können so gering sein, dass dasselbe Bild nur mit einer minimalen, waagerechten Verschiebung des Blickpunkts verdoppelt wird, ganz nahe am lebendigen, zweiäugigen bzw. bifokalen Sehen. Die Vervielfältigung der Blicke kann jedoch auch extrem weit gehen, völlig unterschiedliche Blickwinkel, Standpunkte, Entfernungen und Lichtverhältnisse in den unterschiedlichen Photos der Reihe ins Spiel bringen.
Auf diese Weise wirken diese Photoreihen in sich selbst und zueinander sehr unterschiedlich, sie scheinen deutlich voneinander getrennten Gattungen von Photographie zuzugehören, sie scheinen zum Beispiel fiktionale Erzählungen zu suggerieren oder vorgefundene Realitäten zu dokumentieren oder artifizielle Inszenierungen abzubilden. Diese unterschiedlichen Temperaturen oder Realitätsgrade des Sichtbaren werden jedoch deutlich als Effekte von Variationen immer desselben Verfahrens vorgeführt: sie zeigen sich als Effekte, die geregelten Differenzen der Verfahrensweise entspringen und nicht primär mit unterschiedlichen Realitäten oder Realitätsgraden des Photographierten zu tun haben. Wie weitgehend nämlich die Photographie ihren eigenen Gegenstand, das photographische Bild, als einen ganz eigenen Typ von Objekt erst hervorbringt, wird meist übersehen. Durchaus vergleichbar der Art und Weise, wie die Wissenschaften historisch ihren jeweiligen Gegenstand, den Gegenstand ihres Wissens, konstituiert haben, erzeugt auch die Photographie ihren spezifischen Gegenstand, das Photo, ziemlich unabhängig von den Realitätstypen und Realitätsgraden ihrer Sujets.