Barbara Probst untersucht die Vieldeutigkeit und Fragwürdigkeit des fotografischen Bildes. Das Verhältnis des fotografischen Augenblicks zur Wirklichkeit wird in ihrer Arbeit in zweifacher Hinsicht zugespitzt, wodurch diesem Augenblick in fast verstörender Charakter verliehen wird: Einerseits gibt Probst die einäugige Sehweise der Kamera auf und spaltet diese in viele Standpunkte und Einstellungen. Zum Anderen multipliziert und vervielfältigt sie den kurzen Moment der Aufnahme. Ein über Radiowelle gesteuerter Auslösemechanismus ermöglicht es ihr, verschiedene Kameras aus der Distanz gleichzeitig auszulösen, die auf ein einziges Motiv oder ein Geschehen hin ausgerichtet sind. Die so erzeugten Bilder eines Moments definieren jeweils eine Reihe. Die Verwandtschaft der Bilder innerhalb einer Reihe ist nicht über eine einheitliche Gattung oder gemeinsame stilistische Merkmale geregelt. Keine formale Nähe und kein übergreifendes Thema halten die Arbeiten zusammen. Ein viel strengeres und dennoch kaum zu fassendes Band verbindet die Fotografien in diesen Reihen: der eine und einzige Augenblick, das Auslösen, von dem sie alle handeln.
In unserer Lebenswirklichkeit bleibt jeder Augenblick einer einzigen Erfahrung zugeordnet, wie komplex diese auch sein mag. Wir sind in das Nacheinander des zeitlichen Ablaufs eingelassen, als unhintergehbare Bedingung unsres Daseins. Verschiedenes kann nur in unterschiedlichen Augenblicken wahrgenommen werden und das Gleiche nur von einem Ort aus gesehen werden. Jeder Aspekt ist an eine Betrachterposition und einen Punkt in der Zeit gebunden. Nur von Gott oder Göttern sagt man, sie könnten allsichtig sein und von jedem Punkt aus Alles und von überall her Eines sehen. Uns aber verstellt das Erblickte die Sicht; was wir sehen, macht uns alles andere unsichtbar. Auf diesem Feld der Standpunkte, der Blickpunkte bewegt sich die Fotografie. Die Trauer, die aus jeder Fotografie spricht, hat mit dieser Ausschließlichkeit des einen Ausschnitts und der Uneinholbarkeit des einen Blicks zu tun. Und jede Fotografie ist Flucht vor dieser Trauer.
Doch nicht der Widerspruch zur Lebenswirklichkeit und unseren Wahrnehmungsbedingungen ist der Grund für den Eindruck von Skepsis und Ernüchterung, die die Arbeiten von Barbara Probst hinterlassen. Die Fotos einer Reihe “zeigen” strenggenommen ein einziges Sujet, eine Akteurin, ein Modell, eine Handlung, die von den Kameras erfasst wird (oder die Kameras erfasst). Weil es aber scheint, als gehörten die einzelnen Bilder einer Reihe unterschiedlichster Genres und Stilen zu, werden genau diese Bildgattungen und der Anschein der Unmittelbarkeit als reiner Effekt der Kameraeinstellungen, Distanzen, Beleuchtungen und Filmqualitäten sichtbar. Auf eine eigentümliche Weise ist das Bild (das, was ich sehe) sowohl vom Sujet (das, was die Kamera gesehen hat) als auch vom Band des Augenblicks, der Gleichzeitigkeit der Belichtung, unabhängig. Das widerspricht der Vorstellung eines eindeutigen Wirklichkeitsbezugs. Der Moment der Aufnahme ist kein Augenblick der Wahrheit.
Die Künstlerin weiß, dass der Umschlag der Fotografie (der sprachlosen Einschreibung des Lichts) ins Bild quasi reflexhaft erfolgt. Der Glaube an die dokumentarische Unmittelbarkeit des fotografischen Bildes wird in diesen Reihen in Frage gestellt und jede Naivität ist daraus verschwunden. Ein und derselbe Augenblick, ein einziges Sujet, produzieren unterschiedliche Formen der Lektüre. Ich ertappe mein eigenes Begehren bei der Arbeit. Das Foto selbst wird als bloßes Ergebnis einer fotografischen Versuchsanordnung und als abhängig von subjektiven Einstellungen erfahrbar. Es lässt mir weder den Anschein von Wahrheit noch die Geschlossenheit der bildlichen Illusion, in der ich mich als Betrachter zur Ruhe setzen könnte. Es setzt den Blick aus und bietet dem “Das ist es” der naiven Lesart keine Heimstatt mehr. Das stellt nicht nur das Verhältnis des Rezi-pienten zum Bild in ein neues Licht, sondern verhält sich auch äußerst skeptisch zur künstlerischen Autorschaft. Assistierende Fotografen fungieren als lebende Stative, werden zu einem Teil der Kamera und innerhalb der Szenerie zu Statisten. Ein Tatort, ein Schauplatz wird vorbereitet, das Dokumentarische selbst schon als Effekt inszeniert. Die Künstlerin gibt verbale Anweisungen zu Abstand und Wahl des Bildausschnitts. Sie gibt den Blick durch den Sucher, den letzten Garanten für die dirigierende und wählende Kraft des Autors, preis. Der Auslöser in ihrer Hand ist das Werkzeug, mit dem der Anschein von Unmittelbarkeit zersprengt wird, der Vertrag zwischen Auge und Bild gelöst wird. Sie gibt den eigenen Blick auf und leiht sich die Blickfunktion der Anderen. Alle Entscheidungen konzentrieren sich im Zeitpunkt des Auslösens. Was Folge von Vorentscheidungen (Wahl des Films, der Blende, der Belichtungszeit, des Kameratyps etc.) ist und was der Kontrolle der Künstlerin entgehen musste, ist im sichtbaren Endergebnis unleserlich geworden. Das ist die eigentliche Destruktion der Autorschaft, die nicht darin besteht, Entscheidungen an automatische Abläufe oder simple Verfahrenstechniken abzugeben, sondern darin, die Grenzen Zwischen Intention und Absichtslosigkeit, zwischen Auswahl und Zufall, zu verwischen, den Standpunkt des Autors in Frage zu stellen1.
Die Künstlerin legt die Karten auf den Tisch: Die Illusion ist gebrochen, weil alles sichtbar ausgebreitet ist. Der Apparat wird auf sich selbst gerichtet. Man sieht Kameras, Leuchten, Stative, auch andere Fotografierende. (Der Fotograf ist nur mehr ein Vehikel der Fotografie.) Sollte man den Bildern auf den Leim gegangen sein, wird man schnell eines Besseren belehrt: Was man sieht, ist Fiktion, aber auch der Mechanismus, das Zeug des Fotografen, seine komplette Maschinerie. Die Anwesenheit des Apparats bricht das fotografische Genre2. In Probsts Arbeit wird der Apparat nicht nur im einfachen Wortsinn sichtbar, als ständig anwesendes und sichtbares Instrument der Fotografin, das selbst ein Teil des Bildes ist und ständig auf dessen technische Bedingtheit und den Augenblick seiner Erzeugung hinweist. Die Möglichkeit, sich innerhalb der Fotos gleichzeitig mit dem Blick durch die Kamera und dem Blick auf die Kamera zu identifizieren, macht auch die Funktion, die Art und Weise, wie die Zurichtung der Welt durch den Apparat geregelt wird, sichtbar.
Das Aufbrechen des Blicks in mehrere, d.h. im Prinzip unendlich viele Positionen zerrüttet die Selbstgewissheit des Betrachters, den die Fotografien in die Unmöglichkeit eines vervielfältigten Standpunkts versetzen. Die Endlosigkeit der möglichen Standpunkte wird durch einige wenige Bilder suggeriert. Die Regeln der Sprache sind schon in einem Satz enthalten. Diese beinahe schon utopische Möglichkeit, den einen Augenblick aus wechselnden Perspektiven mit unterschiedlichen Einstellungen zu betrachten, bringt Genuss. Aber es gelingt nicht, dieses sich Auseinanderfalten der Bilder einfach nur als verschiedene Aspekte eines Sujets wahrzunehmen. Wir sehen nicht einfach bloß eine Situation, ein Modell von verschiedenen Seiten. Wir sehen Bilder, die völlig unterschiedlichen Gattungen angehören. Bestimmte Indizien, eine Körperhaltung, ein Gesichtsausdruck, ein wehendes Haar, zufällige Passanten oder winzige Details weisen uns über Umwege darauf hin, welche Verbindung wirklich besteht zwischen den Bildern. Die Assoziationskraft des Genres ist so stark, dass sich keine einheitliche Erlebnisebene für die Folge der Fotos aufbauen lässt. Wir werden in diverse Bezüglichkeiten gelockt, das eine Sujet wird vollkommen unterschiedlichen Lesarten zugeführt. Der Wechsel des Blickpunkts ist ein Spiel mit der Identität des Betrachters und der Identität des Sujets. Wir sind mit unserem Blick nicht allein. Ein geheimnisvoller Anderer hat seine Augen auf dieselbe Szenerie geworfen. Wir sehen durch fremde Augen und gerade das relativiert den eigenen Standpunkt. Auch die eigene Sicht könnte ein Anderer, vielmehr ein Anderes, übernehmen. Auch dem Blick der Kamera unterstellen wir ein Auge. So wird aus dem Betrachter ein Betrachteter. Plötzlich entfernt man sich aus der Geschlossenheit des Bildes, aus der suggestiven Illusion des Genres. Der andere Blick wird gesucht und gefunden wird sein mechanischer Stellvertreter, das Stativ mit dem Apparat. Ein leichter Schwindel ergreift uns. Um den Anschein des Abbildes für uns wahren zu können, mussten wir die Apparatur vergessen. Doch nun sehen wir nichts anderes mehr.
Wenn es überhaupt die Möglichkeit gibt, dass sich Fotografie ihren eigenen Bedingungen gegenüber kritisch verhält, wenn Fotografie nicht zwangsläufig nur immer noch weitere Bilder zu allen schon vorhandenen hinzu produziert, dann muss sie etwas zeigen können, das die fotografischen Bilder selbst und den problematischen Status von Wirklichkeit darin befragen kann. Die unmögliche Sicht auf den einen Moment macht die Fiktionalität überdeutlich. Statt den Realitätsgehalt zu erhöhen, macht die Vielansichtigkeit das Wahnhafte und Illusorische der Bilder klar. Wir blicken hinter den Mechanismus und wir blicken zurück. Was wir letztendlich sehen, ist der Anfangspunkt des Bildes, der Moment des Auslösens. Dieser Moment ist von Anfang an ein Kreuzungspunkt. In ihm überschneidet sich das Historische (die Historizität, der geschichtliche Moment der Erfindung des Apparats, die er in seiner Funktion ein für alle Mal mit sich führt), mit der Gegenwart dessen, was festgehalten ist, einer immer schon vergangenen Gegenwart, die alle zukünftigen Lektüren des Bildes in sich verschlossen trägt. Dieser Moment, der ansonsten unsichtbar unter den Bildern begraben liegt, er ist das zentrale Thema in diesen Fotoreihen, die das Fotografieren selbst zeigen.
Der positive Glaube an die Wahrheit des fotografischen Bildes ist längst abhanden gekommen. Es gibt keinen Schritt zurück. Barbara Probst´s fotografische Aufklärungsarbeit ist eine Chance, die Definitionsmacht der Bilder zu brechen oder zumindest zu unterlaufen. Hier ist ein analytischer Ausweg gefunden worden. Aber wenn alle Naivität zerstört ist, wo ist dann Welt noch? Eine nur zynische Destruktion der Illusion ließe uns letztlich nur enttäuscht zurück. Aber der Betrachter dieser fotografischen Reihen wird aus Zwängen entlassen und er verspürt Erleichterung. Dem Bild nicht trauen zu können, heißt auch, ihm nicht trauen zu müssen. So erhält der Betrachter die Erlaubnis zu genießen, denn er wird nicht überredet, zu glauben. Ich entkomme dem tönenden Anspruch der Wahrheit und der Falle des Geschmacks. Ich brauche das einzelne Foto nicht zu beurteilen, denn es ist ohnehin nicht gemeint. Aus der Enttäuschung ist unversehens ein schwebendes Gefühl der Freiheit geworden. Wir sollen an den Bildern vorbei, über die Bilder hinweg zur Welt finden. Dieser Moment der Aufklärung kritisiert unsere Bilderwelt, weil er auf Wirklichkeit hofft.
Stefan Schessl, 2002
1 Hier möchte ich auf die Arbeit von Sam Samore verweisen, der Detektive beauftragte, in anonymen Menschenmengen zu fotografieren. Ausschnitte der Fotos (z. B. Augen, Lippen) wurden vergrößert und so gezeigt.
2 vergl. Eine ähnliche Fragestellung innerhaltb der älteren Maleriei in dem Gemälde „Las Meninas“ (1656) von Velázques.